Fünftes Bild  ∙  Autopsie des Monuments

Im nebligen Niemandsland der verwaisten Vernunft, zwischen einem mit Mull zugepflasterten Himmel und einer von Wundverbänden überzogenen Erde steht der Felsen der Trauer, ein lädiertes Gehirn, halb eingesunken in Schutt und Geröll, blutig von Stacheldraht, gequetscht von Panzersperren, paralysiert von Medikamenten, Drogen, Nikotin und Alkohol. Die linke Hemisphäre zeigt nach Westen, die rechte nach Osten. Zwischen beiden Hirnhälften klafft ein tiefer Spalt, überbrückt von einem Schlagbaum.

Postsäcke liegen herum, Paketsendungen, Verpackungsmaterial. Aufgerissene Briefe, ungeöffnete Telegramme, verblasste Ansichtskarten. Aus der Hirnmasse ragen verbogene Fernsehantennen. Abgeschnittene Telefonkabel und gekappte Leitungen hängen herab.

Die Sekretärin, die abgezehrt und bleich aussieht, und deren ernste Züge die Spuren eines hoffnungslosen Grams verraten, versucht herauszufinden, welche Teile des Gehirns noch arbeiten oder sich wieder in Betrieb setzen lassen. Sie bemüht sich, eine Verbindung herzustellen, eine Botschaft zu senden. Es gelingt ihr nicht. Niemand meldet sich.

Sie sucht in Päckchen und Briefen nach einem Andenken, durchwühlt Berge von Ansichtskarten nach einer Spur, doch der Verheizte scheint für immer im Elend des Exils verschollen zu sein.

Eine einsame Gestalt tastet sich näher. Es ist die Prostituierte. Der Funze hatte sie mit entsetzlicher Wut verfolgt, aber nicht gefangen nehmen können. Sie ist gänzlich verändert. Es steht schlimm um sie. Aber die Unglückliche, die selbst Trost nötig hat, beschämt die Sekretärin in ihrer traurigen Bekümmernis durch tief zu Herzen gehende Liebkosungen. Beide geloben einander, die Suche nach dem Ewigen Genossen bis zum letzten Atemzug fortzusetzen.

Da tobt eine johlende und grölende Bande heran. Der Verheizte, der Mastclown und seine beiden jungen Talente haben den Ewigen Genossen gefunden und führen ihr bebendes Opfer im Triumph mit sich.

Der Ewige Genosse ist ein schüchternes, feiges, weichliches, hilfloses Männlein. Er ergeht sich in wehmütigen Klagen über sein Heimweh und seine Verlassenheit. Die Bande verhöhnt und erniedrigt ihn.

Aus ihrem verbotenen Rausch gibt es kein Erwachen. Wild und mutwillig, richten sie Verwüstungen an. Der Verheizte penetriert auf obszöne Weise die Hirnspalte. Die Sekretärin umtändelt ihn mit verstellter Schalkheit. Die Prostituierte lächelt in schmerzhafter Gleichgültigkeit Der Mastclown wird von seinen beiden jungen Talenten mit Hilfe des umherliegenden Verbandszeuges in eine Mumie verwandelt. Der Ewige Genosse versucht zu entkommen und balanciert auf dem Schlagbaum. Er traut sich weder vor noch zurück.

Der Verheizte klettert auf der Hirnleiter hinauf. Die jungen Talente kündigen mit großem Brimborium sein Selbstbegräbnis an. Der Verheizte stürzt sich kopfunter in den Hirnkrater.

Alle Sicherungen brennen durch. Alarm wird ausgelöst. Himmel und Erde setzen sich in Bewegung und fahren langsam aufeinander zu.

Die Prostituierte überredet den ewigen Genossen in letzter Sekunde, vom Schlagbaum herunter in ihre Arme zu springen. Beide können sich retten.

Die Sekretärin, ohne innere Anzeichen einer äußeren Besinnung, läßt sich mit dem Hirn plattpressen.

Dramaturgie  ∙  Zum fünften Bild

Der Glaube verkommt unter den Umständen des ideologischen Traumas zu einer Ruine, die gerade einer Autopsie unterzogen wird. Diese Selbstöffnung der Glaubensleiche ergibt sich aus der dreieckigen Aufeinandereinwirkung der Größen Liebe, Phantasie, Kunst, Weisheit und Gewissen unter den Bedingungen verzweifelter Entfremdung, Exiliertheit und Trauer. Dabei wird die Ruine der Liebe als Zweifel, die Ruine der Phantasie als Angst, die Ruine der Kunst als Zwang, die Ruine der Weisheit als Lüge und die Ruine des Gewissens als Feigheit bezeichnet.

Die Dreieckigkeit der Anordnung ergibt sich einmal daraus, daß zwei Größen, die für alle Figuren gelten, zusammen mit der jeweils für die dritte Figur bestimmenden ruinösen Größe eine Dreiecksbeziehung eingehen, dergestalt, daß zum Beispiel Angst die Phantasie dadurch zerstört, daß die Infamie des Intellekts und die Anarchie der Gefühle so sehr zunehmen, daß sie sich in einem Punkt treffen. Die Angst bildet dabei die Grundlinie, Infamie und Anarchie bilden die Seiten des Dreiecks. Im Scheitelpunkt der beiden Dreiecksseiten ist die Angst am größten und die Anarchie der Gefühle und die Verruchtheit des Verstandes haben die Einbildungskraft zugrunde gerichtet.

Außerdem zielt immer eine Figur auf eine andere ab, der ewige Genosse auf die frigide Sekretärin und so weiter... und diese Beziehungen werden dadurch gestört, daß sich die frigide Sekretärin ihrerseits wiederum dem in Schönheit Verheizten zuwendet...

Die ruinösen Größen sind einerseits als ideologische, andererseits als traumatische Größen anzusehen. Sie erhalten den Wert instinktiver Reaktionen.

Die Elemente des Dreiecks heißen Anarchie der Gefühle, Infamie des Verstandes, Parodie des Instinktes.

Anarchie der Gefühle

Die Anarchie der Gefühle ist das Gegenteil von Gefühlskultur. Die Handhabung der Gefühle ist „defizitär“ (Mitscherlich). Im anarchischen Zustand überwinden die Gefühle ihre Hemmung, hervorzubrechen. Gleichzeitig befinden sie sich im Zustand der Täuschung. Es fehlt ihnen das kultivierende Koordinatensystem. Sie sind partnerlos und turbulieren.

Infamie des Verstandes

Die Verruchtheit des Intellekts ist seine Unvernünftigkeit. Der Verstand kann das Unvernünftige verstehen, das Unverständliche kann vernünftig sein. Aber auch noch die gedankenlose Handlung wird vom Verstand verbogen.

Die Verruchtheit besteht darin, diese Verbiegung intellektuell bewußt zu beschleunigen, entweder durch Einsicht oder durch Uneinsicht. Der Intellekt folgt der Spur, dem Denkweg, der Verbiegung, und provoziert seine Verruchtheit, die ihm die letzte Hoffnung ist. Verruchtheit ist hier so etwas wie eine weltliche Blasphemie. Der Intellekt will sich selbst beweisen, wie sehr er nicht irrt, wenn er nicht recht hat. Und wie sehr er damit recht hat, daß er nicht recht hat. Es ist dies auch das Problem einer verbogenen Kreativität, einer Unfähigkeit zur Trauer, und es ist ein Teil vom Elend des Gedächtnisses, dessen Erinnerungsjagd ins Leere hetzt und dessen Optimismus abwärts gerichtet ist.

Viel ist hier auch von Isolation und Einsamkeit zu hören, von Minderheit, Alleinsein und Nichtverstandenwerden. Ebensoviel wird in diesem Bild geredet vom Fatalismus unserer Instinkte, der Aussichtslosigkeit, etwas ändern zu können, dem Gefühl, betrogen und verschaukelt worden zu sein. Man ist auf den Leim gekrochen. Man hat an das Falsche geglaubt. Man hat sich geirrt. Und man hat die Zeit für alles verschwendet, nur nicht, den Irrtum rückgängig zu machen.

Parodie der Instinkte

Darunter ist zu verstehen die Abwendung der Instinkte vom Natürlichen, und ihre Hinwendung zum Sozialen.

Autopsie

Dieser Begriff unterstellt nicht nur die Suche nach der Todesursache, sondern auch nach einem Lebenszeichen. Man hat eine Ruine vor sich, die auch nach Spuren gewesenen Lebens durchforscht wird.

Der verruchte Intellekt kennt die Todesursache, biegt sie von sich selbst weg, um Lebensreste zu finden - und das Ergebnis infamiert ihn...