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Robustes Mandat für den Leser I(IV)
Was bezeugt Literatur?
Literatur ist des Dichters sterblicher Rest (arte factum).
Im glücklichsten Fall also zeugt Literatur vom Vorhandengewesensein eines Dichters.

Literatur im weiteren Sinn alles Geschriebenen zeugt davon, daß seit jeher geschwindelt, betrogen, gefälscht und, sobald etwas der Wahrheit zu nahe kommt, verboten, verfolgt und ermordet wird.

Betrachtet von der Entwicklung der für die Literatur erforderlichen Werkzeuge aus, beginnt alles bei Gott, der mit dem Finger in Stein schrieb.
Heute hat jeder einen Computer, was weder heißt, daß alle rechnen, noch, daß alle lesen und schreiben können. (Alles Tätigkeiten, die man ein Leben lang er-lernen muß, ohne sie je zu können.)
Es zeigt nur, daß der Geist sich verbreitet hat wie das Salz im Meer – an jedem Tropf bleibt etwas hängen –, die Literatur befindet sich im Zustand der Auflösung bzw einer unendlichen Verdünnung.

Wenn zur Zeit die historische Thematik wie folgt verkürzt wird:

Drittes Reich Juden und deutsche Verfolgte
Bundesrepublik Die Achtundsechziger
DDR    Mauerbau und Mauerbruch

müßte Literatur, die diesen Namen verdient, bezeugen, was sonst noch wahr war.

Zusammengefaßt sollte Literatur bezeugen den Dichter; die Umstände, unter denen er schreibt; wie dies sich niederschlägt in der Konstruktion seiner Gesamtarbeit; und welcher ideale Lebenszweck daraus erwächst.

In meinem Fall hat die DDR mir Bedingungen beschert, woraus sich folgende Konsequenzen ergaben:
  • der soziologische Ansatz nach einer politökonomischen Gliederung
  • die literarische Form, die sich aus dem Zusammenleben der Menschen ergibt
  • die Darstellung eines Systems in Funktion, in welchem ich gleichzeitig ein- und aus­geschlossen bin

Woraus ich etwas dem Schema eines Patriotismus Vergleichbares abgeleitet habe:


DICHTER      BAUER
Mutter-Sprache Vater-Land
  PATRIOTISMUS
Eigener Auftrag Intention des Staates  Anforderung der
Literaturindustrie
POLITIKUM

Mein Interesse gilt einem Modell des Patriotismus, welches die Tatsache anerkennt, daß es für den Dichter keinen Platz in der Gesellschaft gibt.

Von dieser Position aus war zu entwerfen im Osten eine Art theoretischer Literatur, die im Westen durch die Praxis wieder zu zerstören war.

Um derart zu leisten, was nur der Dichter kann und eine seiner Aufgaben ist – zu schreiben die Geschichte der Gegenwart.

Das Politikum besteht in der Kollision zwischen dem poetischen Intellekt, der auf eigene Rechnung lebt und den approbierten Mediasten, die auf Bestellung, gegen Bezahlung, im Auftrag der Industrie und des Staates markt-, ideologie- und machtgenehme Ware herstellen.

Der künstlerische Gegensatz besteht dann zwischen dem betreuten literarischen Pflegefall und dem er-volk-losen Flüchtling.

Neben den beiden konfuzianischen Prinzipien, das „Wissen im Kopf aufzu­bewahren“ und das „Wissen, welches es ist, das den Menschen adelt und edelt“, kommt ein drittes, welches vielleicht den Dichter für die Zukunft geeignet erscheinen läßt: daß er in lausigen Zeiten die Pflicht hat, sich zu tarnen, um unerkannt durch die Sperren der Dummheit und der Barbarei zu gelangen.

Konfuzius fragt: Wenn die Menschen einen nicht erkennen, doch nicht murren: Ist das nicht auch edel?

Wenn einer sich ein Leben lang sozial maskiert, um die Verhältnisse zu beschreiben, unter welchen siebzehn Millionen Menschen vierzig Jahre lang gelebt haben, ist der nicht auch ein Patriot?

Es ist der Dichter, der die Poesie bezeugt.

   Thomas Körner: Das Land aller Übel © Acta litterarum 2009