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Robustes Mandat für den Leser II(IV)
Utopie Satyre Paradies
Jede Utopie ist eine Satyre auf das Paradies bzw das Paradies ist eine utopische Satyre.

Zwei Sätze der alten Leute: Früher, in der guten alten Zeit, wo alles besser war...

und: So gut wie ihr heute hatten wir es nie...

Hier gibt es gleichzeitig – kausal entlang der Zeitachse – eine verklärte Vergangenheit und eine rosige Zukunft.

Und beides immer von einer Position des Gedankenstrichs aus – der Gegenwart.

Man hat das Gefühl: Die Gegenwart befindet sich in einem Zustand des Zerfalls und der aus diesem Zerfall resultierende Teilchenstrom fließt in Vergangenheit und Zukunft ab; oder die Teilchen aus Vergangenheit und Zukunft treffen in uns wie in einem Teilchenbeschleuniger aufeinander.

An den jeweiligen Grenzen oder Zeit-Horizonten setzen sich daraus zwei Gestalten zusammen: die Dame Utopia und der Herr Mythos.

Verwundert fragt man sich: Was finden die beiden nur aneinander?

Und man begreift: Er sieht in ihr, mit seinen Augen, ein Wunschbild; und sie sieht in ihm, mit ihren Augen, eine schöne angenehme Erinnerung.

Da man als Mensch aber dazwischen steht und alles dies in unserem Kopf stattfindet, ist es einem unmöglich, sich ein gewisses Lächeln zu verkneifen.

Haben die beiden nun mich oder ich sie „erzeugt“?!

Diese Frage und diese Haltung sind vielleicht ein Teil dessen, was Ironie heißen könnte.

Nun ist Ironie zwar eine geistige Angelegenheit, sie hat aber eine sehr materielle und derbe weltliche Seite – die Satyre.

Dieses satyrische Element kommt daher, daß wir seit Platon wissen, daß es tatsächlich der alte mythische idealisierte Zustand selbst ist, der von dem philosophischen Kopf (dem politischen auch oder dem poetischen) in eine lichte, neue bessere Zukünftigkeit übersetzt wird – gleichsam von einem Nirgendwo ins gegenüberliegende, auf dem Wege einer Wechselprojektion.

Um dabei „verwirklicht“ , besser „ver-wirkt“ zu werden.

Genau so wird die Satyre zur Realie der Ironie.

Der Begriff „real existierender Sozialismus“ enthält beispielhaft den Vorgang.

Vom ironischen oder satyrischen Standpunkt aus ist das Verhältnis aus Utopie und Mythos – genannt „Verwirklichung“ im Sinne der „Vertatsächlichung“ (dh. aus einem Bewußtseinszustand wird ein Seinsachverhalt) – eine Art „Selbst-verwirkung“, die einfacher Dummheit heißt.

Die beiden Sätze der alten Leute lassen sich dann umkehren. Alles war ja nicht schlecht, früher, heißt es nun. Und es wird ja immer schlimmer...

Daß bei alldem nicht Utopie mit Utopie und Verwirklichung mit Verwirklichung gleichzusetzen geht, ist klar.

Die Phase der Verwirklichung, die ich zu beschreiben versuche, war eine, bei der sich Gelächter und Verzweiflung gerade so die Waage hielten – was in einem aus Utopie und Antiutopie bestehenden Jahrhundert nicht wenig ist.

   Thomas Körner: Das Land aller Übel © Acta litterarum 2009