Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0810

siebenter juli achtundachtzig

erster eindruck
nach dem umzug

sich von dieser landschaft
erziehen lassen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0811

zehnter juli achtundachtzig

blick
aus dem fenster

ich kann die luft
mit augen sehen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0812

sechzehnter juli achtundachtzig

hier
können
wir
sterben

heimat der winkel zwischen dem grünen hang und der neigung des apfelbaumes
der kirchturm über dem hügel der obstbaum mit den angelehnten bohnenstangen
der blaue himmel darüber und die weiße wolke im abendrot
die von hand aufgeschichtete steinmauer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0813

neunzehnter juli achtundachtzig

abends halb neun

halbstarke
mauersegler
umjohlen den turm

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0814

sechsundzwanzigster juli achtundachtzig

des himmels
wolkenhand

die wolkenfaust

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0815

achtzehnter august achtundachtzig

monddolch
in der
nachtbrust

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0816

september achtundachtzig

ein pferd
küsst mir
die hand

ein schmetterling
läßt sich
von mir
auf händen tragen

ein regenbogen
fast zum kreis geschlossen
wie ein reif umringt
das tal der tauber

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0817

zwölfter oktober achtundachtzig

der amtierende burghund ist der erste
von dem ich den eindruck der nachdenklichkeit habe
er muß entweder cipion oder berganza sein

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0818

zwölfter oktober achtundachtzig

die neue keilschrift



Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0819a

neunzehnter oktober achtundachtzig

unmöglich
einen fernsehapparat
zu kaufen

als entschlösse man sich
einen käfig in die wohnung zu stellen

um drei stunden am tag
affe zu sein

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0819b

trinklied

ich trink
solang
ich nüchtern
bin

und wenn
ich dann
besoffen
bin

fang ich
an zu
saufen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0820

siebenundzwanzigster oktober achtundachtzig

sys lebenslauf

herumreden
weggehen
kennenlernen

ackern
aufregen
sauersein

weitermurksen
spinnen
vergessenwerden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0821

achter november achtundachtzig

motto

einst

ändere das buch
du änderst die welt

nun

endet das buch
endet die welt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0822

dreizehnter november achtundachtzig

den ganzen tag
mit dem himmel
auf dem kopf
rumgelaufen

kann man
sich selbst
köpfen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0823

siebzehnter november achtundachtzig

am vortag
stuppacher madonna

die kirche als
maria mit dem kind

daß eine kirche
mit ihrem gott
umspringt

wie eine mutter
mit ihrem kind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0824

achtzehnter november achtundachtzig

ein acker
gepflügt

als hätte
die erde

sich vom rücken
auf den bauch gelegt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0825

zwanzigster november achtundachtzig

erster schnee

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0826

fünfter dezember achtundachtzig

die vernichtung
einer woche

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    827

achtzehnter dezember achtundachtzig

mich würde interessieren
wie ich schreibe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0828

neunzehnter dezember achtundachtzig

rasendes unvermögen
unvermögendes rasen

wind
gleist
um den
turm

wie eine
straßenbahn

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0829

einundzwanzigster dezember bis siebenundzwanzigster dezember achtundachtzig

ddr tour

zu schnell
zu tief
hinein

zu schnell
nach oben
hinaus

dekompensationsbeschwerden
wie eine art taucherkrankheit

durchfall
herzrasen im leerlauf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0830

achter januar neunundachtzig

der geist
hat mich
wieder

es lechzt
mich
nach arbeit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0831

dreizehnter januar neunundachtzig

senkrecht
steil
geht der himmel
in die höhe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0832

fünfzehnter januar neunundachtzig

wenn ich mein schwanz wäre
täten mir die füße weh
vom rumstehen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0833

sechzehnter januar neunundachtzig

plötzlich ist der himmel hell
blauschwarz mit strahlenfächern
aus wolken die sich überkreuzen
so daß er eine glockenkuppel
bildet voll verstreut blühender
sternenflächen an deren
höchstem punkt weißtönend
das gewicht der mondin steht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0834

neunzehnter januar neunundachtzig

die mondin
von ihrem licht
am himmel getragen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0835

erster februar neunundachtzig

mama gestorben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0836

vierter februar neunundachtzig

eigentlich nur das gefühl
sie wie vor tausenden von jahren
in ein ledernes tuch gehüllt
auf meinen armen zu tragen
in eine rille oder mulde zu legen
die in staubige heiße erde gescharrt ist
und sie zu bedecken mit steinen
gegen wilde tiere

dieses gefühl ihren leichnam
auf armen zu tragen
und dabei zu gehen
den sternen nach
auf der oberfläche eines planeten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0837

fünfter februar neunundachtzig

alte fotos

ich eigne mich nicht
zur bildlichen darstellung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0838a

siebenter februar neunundachtzig

das jahrhundert
des schauspielers

apropos deutschland

da sind wir jetzt bei den chargen
claqueuren und schmieren angelangt
oder noch unter sie hinaus
wir sind bis auf die
tragenden rollen verkommen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0838b

nachschrift russland

mich interessieren
sicherheitshalber schon jetzt
die 'verbrechen' gorbatschows

ddr stimmen

wir brauchen keine perestroika
höchstens noch mehr glasnost
und ulbricht war ein ehrenwerter mann

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0839

elfter februar bis fünfzehnter februar neunundachtzig

ddr

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0840

achtzehnter februar neunundachtzig

in der ZEIT

ein neuer fall moosbrugger

aus dem gerichtssaal
'christian m.'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0841

siebenundzwanzigster februar neunundachtzig

ehegattenarbeitsvertrag

wir leben von dem geld
das meine frau
bei mir verdient

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0842a

achter april bis sechzehnter april neunundachtzig

auto-urlaub
bei strömendem regen

nach acht tagen
abgebrochen

8.apr

gamburg basel über waldshut

9.apr

fahrt nach colmar isenheimer altar eindruck wie erhofft
unbeschreibbar stadtrundgang fahrt durch die berge zum
grande ballon schwarzer und weißer see

10.apr

basel museum für gegenwartskunst eine interessante madonna
mit kind ? siebziger jahre ? 'feuerstätten' von joseph boys
stadtgang und einkäufe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0842b

11.apr

kunstmuseum basel interessante sammlung der grünewald dort ist
seltsamer weise nach dem isenheimer altar wie eine arbeit 'vorher'

12.apr

fahrt durch das emmental in das berner oberland guttannen von dort
weil der paß zu zurück um luzern herum bis liechtenstein übernachtung
im hotel dux in schaan sehr schönes fenster links zum berg

13.apr

regenfahrt über den st.bernardino lugano am see entlang como am see
entlang sondrio édole passo tonale riesenmengen schnee bis
unsere liebe frau im wald st.felix wettersturz

14.apr

pause zum wandern zu verschneit und nass
proveis und lauren besucht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0842c

15.apr

über die autobahn brenner innsbruck kufstein münchen nürnberg würzburg
zum teil bei regen zurück

die schweizer sind ein geldverleihendes bergbauernvolk
welches in seiner freizeit rad fährt und antiquitäten sammelt usw

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0843

zwanzigster april neunundachtzig

wolke
die
zu tränen
rührt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0844

achter zu neunter mai neunundachtzig

traumsatz

die heilige jungfrau maria
läßt allen schutzbefohlenen
äußerste milde zusprechen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0845

elfter juni neunundachtzig

btr burghund

oder ist er
einfach nur
der hund von
don quixote

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0846

sechzehnter juni neunundachtzig

wer war
der erste
erfinder
der sackgasse

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0847

siebzehnter juni neunundachtzig

eine nullwoche
der geistlosesten art

ein erster arbeitsähnlicher tag

nach vier jahren

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0848

zwanzigster juni neunundachtzig

letzter schultag
kinderkindheit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0849

siebenundzwanzigster juni bis zweiter juli neunundachtzig

wetterlahm
burgarbeiten

ein arbeiter
aus einer flasche trinkt
wie aus einer brust

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0850

dritter juli neunundachtzig

schmuck
beeinflußt die ausdruckskraft
ringe an fingern
die sprache der hände

ein orgasmus
bei dem mir
das wort ölpest
einfällt

ein siebenschläfer eilt
die telefonleitung hinab
den kürzesten weg ins dorf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0851

zehnter juli neunundachtzig

hysteria
hitze
insekten
ameisen
holzböcke
schnaken
bauarbeiter

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0852

dreizehnter juli neunundachtzig

gestern
fahrt die mainschleife aufwärts
rothenfels karlsburg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0853

vierundzwanzigster juli bis achtundzwanzigster juli neunundachtzig

ddr

urnenbeisetzung mama

bad muskau
schloß branitz

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0854

neunter august neunundachtzig

still gesessen
und getobt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0855

zehnter august neunundachtzig

die trauer packt mich
jetzt erst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0856

vierzehnter august neunundachtzig

noch riecht es
nach luft

ein wolkeneber
bespringt die mondin

unter dem dach
zwei siebenschläfer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0857

sechzehnter august neunundachtzig

in süddeutschland

das kruzifix
hinter dem zaun

christus
als gartenzwerg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0858

dreiundzwanzigster august neunundachtzig

dörflicher aberwitz
ein baum wird gefällt
damit der wald
besser zu sehen ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0859a

vierundzwanzigster august bis achtundzwanzigster august neunundachtzig

basel elsaß jura genf zurück

landschaft nur die weinhänge am genfer see

genf ausstellung el greco

christus als mann mit dem stab und dem umhang

christus als der in höchster not leidende mit tränennassen augen
der einzige weinende christus den ich kenne der dennoch durch den
tränenschleier ganz wach nach oben sieht und aufpasst was geschieht

christus als der verklärt erlöst tote lang gestreckt am kreuz

ein bild des apostels johannes

ein bild der heiligen maria auf den schultern von höflingen

ein murillo der heilige jean baptiste als kind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0859b

die drei christus bilder das johannes bild und der murillo
umkreisen den menschentyp der mich weiterführt anknüpfend an
das christuserlebnis vor vier jahren cuba august fünfundachtzig

ansonsten unter menschen um das gefühl für deren dummheit
nicht zu verlieren
auch die dummheit wächst mit ihren aufgaben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0860

dreissigster august neunundachtzig

dieser voyager II müßte man sein
das sonnensystem insgesamt bekäme man von außen zu sehen
und könnte dann in ruhe fliegen vierzigtausend jahre lang
bevor wieder ein stern kommt
der hundsstern sirius

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0861

einunddreissigster august neunundachtzig

weißer abend
im sommer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0862

fünfundzwanzigster september neunundachtzig

wolkenpython
frißt sonnenei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0863

dreissigster september neunundachtzig

nach dem ersten sozialistischen militärputsch in polen
fehlt jetzt der erste sozialistische staatsstreich in der ddr

oder aber weiter massenflucht und eine exilregierung
im eigenen land die sich an die spitze der reformen setzt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0864

elfter oktober neunundachtzig

reformierte revolte
oder
revolution der reform

eine neue ddr ergibt das nicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0865

fünfzehnter oktober neunundachtzig

nüsse
und
faules laub

hohe mondbahn

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0866

zwanzigster oktober neunundachtzig

moder
und
apfelmost

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0867

ende oktober neunundachtzig

lilarot geküsste
abendwolkenmünder

reminiszenz an die aktualität

reformen statt revolution kann nur der machen
der an der macht ist
reformen nach einer revolution muß der machen
der an die macht gekommen ist
ein reformatorischer machtübergang
bewirkt gegenreformation

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0868

neunter november neunundachtzig

freiheit
von politikern eingebrockt
vom volk ausgelöffelt

das kennzeichen
fast jeder
historischen stunde

der pure politische dilettantismus

und die reaktion

abhauen
solange es geht
abhauen
bevor es nicht mehr nötig ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0869

sechzehnter november neunundachtzig

politik aktuell

aus dem ganzen kann
eigentlich nur eine
riesengroße scheiße entstehen

vernunftausbrüche
ersetzen nicht die aufklärung

entweder oder
ist keine dialektik
sondern erpressung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0870a

sechster dezember neunundachtzig

ddr
die fernsehrevolution

aber ohne ein bild von dem menschen der dort vierzig jahre
so deformiert wurde daß vielleicht der einzelne
kaum aber die menge das trauma 'überlebt'

identität läßt sich nicht anordnen sie beginnt erst jetzt
werden sich die leute aber mit der metafer ddr befassen

was der osten bisher für seine identität hält ist etwas
das dem westen wenn er damit konfrontiert wird
furchtbar an seine eigene vergangenheit erinnern kann

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0870b

vorher

es ist ein weib
schön zu besitzen
schön zu genießen
seinen leib
sein schönes fleisch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0871

dreizehnter dezember neunundachtzig

das innenlicht
ist wieder an

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0872

zwanzigster dezember neunundachtzig

der sozialismus ist keine alternative
zur wiedervereinigung

alternativen sind nicht dritt- sondern auswege
es gibt keinen deutschen ausweg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0873

fünfzehnter januar neunzig

mediokratie
oder
die langweiligste aller 'revolutionen'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0874

siebzehnter januar neunzig

salve vagina

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0875

sechsundzwanzigster januar neunzig

lichtschmelze

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0876

zweiter februar neunzig

erwacht
in einem traum
für
einen tag

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0877

vierter februar neunzig

1871-1918   47 jahre kaiser

1918-1933   15 jahre weimar

1933-1945   12 jahre nazi

1949-1989   40 jahre ddr

nimmt man dazu vierzig jahre bundesrepublik
und vorher 1848 bis 1871 pauklskirchenversammlung
ergeben sich rund gerechnet in einhundertfünfzig jahren
sechs staatswesen zu je fünfundzwanzig jahren

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0878

neunter februar neunzig

mondfinsternis

die sonst grauen werte der mondoberfläche sind plötzlich rötlich
und gelblich und graubläulich durch die krümmung des schattens auf der
gekrümmten mondoberfläche werden mondkörper und der weltraum drumherum
gleichzeitig plastisch und durchsichtig der mondkörper sieht aus wie
eine befruchtete eizelle oder wie eine fruchthülle in der ein embryo
pulsiert der raum wird so räumlich daß der mond darin wie von einem
lebendigen wesen getragen wird so wie fische manchmal das wasser und
vögel die luft um sich beleben und davon belebt werden alles hat durch
das veränderte licht eine dimension des lebens hinzugewonnen -

der schatten der erde

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0879

elfter februar neunzig

zustand
der urlaubsreife

ich halte meine schädeldecke
für ein ufo

mir fehlt
der winterschlaf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0880

fünfzehnter februar neunzig

der deutschen
größter wahn

das 'einig vaterland'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0881

sechzehnter februar neunzig

ddr jargon

die gültige fälschung
der kommunalwahlen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0882a

zwanzigster februar bis sechster märz neunzig

jersey

20.feb

gamburg aschaffenburg frankfurt gatwick jersey
am nachmittag zu fuß st.helier hafen und stadt

21.feb

zu fuß bis gorey mit dem bus zurück
steine wie sich paarende tiere

22.feb

zu fuß bis portelet bay und zurück bis st.aubins am meer rest bus

23.feb

mit dem bus bis corbiere
am meer steine felsen klippen riffs an denen das wasser abfließt
wie an einer tierhaut sie sehen nicht nass aus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0882b

24.feb

rozel bay bis gorey zu fuß mit dem bus zurück nach st.helier

25.feb bis 1.mär

von der dänischen salami vergiftet im bett mit darmkrämpfen
sturm und regen

1.mär

von grosnez bis plémont

2.mär

nordküste von plémont bis devils hole zu fuß
zurück mit dem bus

3.mär

westküste von l'etaque bis corbiére lighthouse

4.mär

von st.brelade bis corbiére und am meer gesessen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0882c

5.mär

vorm wege in der stadt nachm von grosnez bis l'etaque
zurück mit dem bus

6.mär

zurück



die westküste ist eine einzige sandbucht und im hinterland
sanddünen

die südküste ist vielbuchtig aber nicht so sehr zum
spazierengehen geeignet

die nordküste ist sehr gut zum wandern
durchgehender cliffpath und begraste granithänge

die ostküste ist teilweise begehbar aber außerhalb
der saison sehr öde

wir sind praktisch bis auf das stück devils hole bis rozels bay
um die insel jersey herumgelaufen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0882d

nachtrag jersey ich habe dort den 'sturm' erlebt
den shakespeare'schen draußen tobte fünf tage lang der sturm
und in mir drinnen tobte eine darmvergiftung und danach war ich
'versetzt' 'wo anders' 'geläutert' von einer 'reise' zurück umgekrempelt
vom körper auf den geist gestellt und was im gedärm vor sich ging
war bild dessen was im kopf passieren mußte und mir der 'sturm'
abgenommen hatte..."er-holung"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0883

achtzehnter märz neunzig

ddr wahl

die/eine hoffnung
gibt/sich auf

loyalität
gehorsame blindheit

politik
wo der spießer genie zeigt -

unterhalb der denkschwelle



dieser sogenannten revolution fehlen geist und köpfe
statt geist deutsche mark statt köpfe geheime dienstleister

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0884

neunzehnter märz neunzig

kunst als preisfrage ist eine der warenkultur
kauf und verkauf sind sozialkunstwerke der zeit des zeitmarktes
und eine kulturelle tat 'für sich'
egal ob es immer weniger kunst und immer mehr kultur fast gar keine
kultur und nur noch kunst gibt ob es heißt macht weder kunst noch kultur
oder was man auch hört alles ist kunst in unserer kultur bzw nichts
tatsache bleibt wir leben in einer art zeitloser preiswürdigkeit einer
kulturnatur die etwas anderes ist als die alte künstlichkeit diese
übertrifft und das ist die kult(h)ürlichkeit des kunst-erlöses

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0885

siebenundzwanzigster märz neunzig

orgasmus

der wie ein stein
ins bett fällt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0886

achtzehnter april neunzig

schwanzangst

ihm bräche
sein rückgrat

lange davor
sturm

der wald
quer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0887

neunzehnter april neunzig

wieso duzt man einen hund

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0888

fünfundzwanzigster april neunzig

fahne

braun rot schwarz
mit einem schwein inmitten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0889a

siebenundzwanzigster april neunzig

klage eines uralten dichters

als ich ein kleiner junge war
war ich überzeugt davon
daß es nichts interessanteres gibt
als herauszufinden
warum es so schwer ist
schriftsteller zu sein

diese schwierigkeiten
interessierten mich mehr
als der beruf selbst

eine frage vielleicht
aus dem zeitalter der biografien
was ist aus mir geworden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0889b

dinge schreiben will ich
die ich nicht mehr weiß
fragen stelle ich mir
die noch nicht zu beantworten sind

das meiste schreibe ich in gedanken
und statt die arbeit mir
mache ich ihr schwierigkeiten
denn dieser beruf besteht aus ihnen
ich übe sie aus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0890

dreißigster april neunzig

es gibt nichts
was man nicht auch noch falscher
machen könnte

die mauersegler
sind wieder da

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0891

zweiter mai neunzig

ich bin mir
zu blöd

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0892

dritter mai neunzig

die erste nachtigall

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0893

vierter mai neunzig

mein geist versucht
sein feuer anzublasen

und ich bekomme
die asche ins gesicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0894a

zehnter mai bis vierzehnter mai neunzig

10.mai

mittags los über kempten füssen nach heiterwang plansee

11.mai

spaziergang zur hochalm durch das tal und am lift entlang
bis zum almkopf ebenso zurück abends nach reutte lechtal namlos
rinnen berwang zurück

14.mai

nach namlos dort spaziergang zur anhalter hütte ging nicht
wegen schnee dafür das tal bis ans ende kleine holzhütte lange
pause den gleichen weg zurück

14.mai

von heiterwang über sonthofen riedbergpass oberstaufen nach hause

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0894b

brunnenfigur
ein knabe mit einem fisch als penis dem wasser entströmt

traum von einem essen mit mir bekannten wo ich einen weißen
porzellanaschbecher und eine zwiebelmusterzuckerdose und drei
gleiche gläser mit rotwein reinigen zum teil austrinken anbeißen
muß und zu einem termin beim rundfunk zu spät komme weil ich
nicht mehr weiß welche adresse irgendwie eine abendmahlsituation

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0895

neunzehnter mai neunzig

ein tag wie im himmel
hellstes strahlblau
leicht zu kalt
und von irgendwo ziehts

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0896

fünfundzwanzigster mai neunzig

unsere körper
sind der wind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0897

neunundzwanzigster mai neunzig

orgasmus
de profundis

aus der urtiefe
des rückenmarks

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0898

sechster juni neunzig

der melonenduft
des oleanders

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0899

zwölfter juni neunzig

drei monate märz bis mai um mich nach vier jahren in die nähe meiner
arbeit zu bringen ein fast noch größerer luxus als sie solange liegen
zu lassen erst jetzt ist die arbeit für mich wieder wirklichkeit
ich für sie

mein verhältnis zur arbeit ist das eines kindes
meine bedürfnisse sonst sind die eines tyrannen
mein leben mit kA gleicht dem eines schimpansen
und seiner schönen wär-/wör-terin

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0900a

zweiter juli neunzig

ddr
die ereignisse laufen synchron asynchron nach dem ideologischen trauma
agonie der utopie frustration der propaganda delirium der dogmen usw

sommersonnenwende

vertrag zur währungs-und wirtschaftsunion im fernsehen

erstes programm fünfhundert jahre post
zweites programm fussball
siehe die rolle der massenmedien

wehmut und trauer

orgasmus senile

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0900b

volksmund

mit den zonis kann man alles machen
die sind so brav
sogar revolution
eine lust für jeden tyrannen

von politikern kann man sagen was man will es trifft immer zu
politiker können sagen was sie wollen es trifft nie zu

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0901

fünfter juli neunzig

lesefehler

ausfahrt freihalten
freiheit aushalten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0902

achter juli neunzig

die leute wollen nicht an jeder straßenecke
nach dem sinn des lebens gefragt werden
die leute wollen auch nicht an jeder straßenecke
nach dem sinn des lebens suchen müssen
die leute wollen einfach nur den sinn des lebens
wenn sie lust dazu haben
an jeder straßenecke kaufen können
und sie haben lust und geld
was dazu führt daß ein markt entsteht
aus sinnfindungsproduzenten und sinnsuchekonsumenten
bzw sinnanbietern und sinnverbrauchern
und so wird mit der zeit aus dem sinn des lebens
ein marktsinn...ein geschäft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0903a

dreiundzwanzigster juli bis achtundzwanzigster juli neunzig

in namlos

23.jul

nach namlos im gasthof kreuz quartier abends herumspaziert

24.jul

den jägersteig von namlos nach stanzach und zurück

25.jul

bis kelmen und dann zur alm oberhalb und abends zurück
via gasthaus zur wetterspitze

26.jul

zum hahntennjochpass über berwang zurück lange pause in mitteregg
im hinteren unteren gasthof gamshackbraten

27.jul

zur engelspitze 2233 m engelspitzkreuz abends in bischbach einkaufen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0903b

28.jul

nochmal in das tal wo es rechts zur anhalterhütte abgeht
im gebirgsbach gebadet zurück über füssen kurzer stadtgang wegen stau

die bergkette südöstlich aus dem gasthofzimmer
sieht aus wie ein riesiger aufgebahrter toter mit verbundenen augen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0904

einunddreißigster juli neunzig

wolkenatoll
wolkenriff
wolkenstrand

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0905

elfter august neunzig

morgen
himmelweiß

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0906

einundzwanzigster august neunzig

l de misére(re)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0907

achtundzwanzigster august neunzig

mond bei gewitter
blitze und halbmond

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0908a

fünfter september bis sechsundzwanzigster september neunzig

vocance

5.sep

gamburg stuttgart straßburg nähe mühlhausen
straßburg münster der eindruck !
die steingewordene weltanschauung
das hierarchische des welt und glaubensbildes in einer fassade
die obere hälfte der danteschen allegorie als baukastensatz
ein enormer bau jedenfalls

6.sep

auf der fahrt nach vocance eigentlich nur ein eindruck von
landschaft das beaujolais von der autobahn aus cluny in der nähe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0908b

9.sep

von der autofahrt um le puy herum nur der landschaftseindruck
wenn man von st.privat (alte kirche) nach le puy zurückfährt
kommt man von ganz weit her und von ganz oben her und fährt auf einer
hochebene mit weitem blick zu weiten bergen

die cathedrale von le puy furchtbar
die mischung aus katholizismus und vulkanismus
ist mir einfach zu 'schwarz'...

in der kirche eine nonne die entweder sechzehn oder sechsundachtzig
war es war zu dunkel um das zu erkennen

alte schwestern so klapperdürr von der sicherheitsnadel ihrer jacken
zusammengehalten

vorher aber mittags auf der höhe in lestival gegessen wo alle gegessen
haben an schmalen langen tischen lauter bauern und kleinbürger etwa zwanzig
personen avocados mit crabben schinken und leberpastete dünne in lammbrühe
gekochte kartoffelscheiben grüne bohnen und rosa lammbraten käse eis ein
halber liter wein ein halber liter wasser ein mirabellenschnaps
einhundertneun francs

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0908c

10.sep bis 17.sep

geldarbeit weiter und fertig

vorher am fünfzehnten fahrt durch die gegend südlich östlich
von romans also vocance annonay tournon romans sur isére
st.nazaire col de la macline durch das vercors (da gab es doch mal
einen französischen schriftsteller der sich so nannte weil er von
dort stammte) bis die glandage col de grimone zurück über grenoble
moirans beaurepaire annonay

19.sep

fahrt durch das vivarais vocance st.bonnet le froid la louvesc
col du buisson lamastre le cheylard mezilhac gerbier de jonc tunnel
du roux aubenas privas durch das tal der oder des eyrieux zurück nach
le cheylard st.argrév st.bonnet le froid zurück nach vocance

20.sep

zu fuß um vocance la monestier und zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0908d

21.sep

zu fuß um vocance richtung satilieu und zurück

22.sep

zum col de buisson gesessen und geschaut

23.sep

gemurkst

24.sep

zum mont mézenc gesessen und geschaut

25./26.sep

via genf zurück nachmittags am see gesessen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0909

dreissigster september neunzig

die nächtliche sonne

lust mit jemandem zu reden der so alt war am tag der maueröffnung
wie ich am tag des mauerbaus
vielleicht nicht nur das gleiche alter auch eine vergleichbare situation

rückkehr

tagelang sehen die dinge aus
wie während unserer abwesentheit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0910a

erster oktober bis dritter oktober neunzig

thema D

normalerweise verhüllen profeten ihr haupt weil sie sehen was kommt

wo sind die profeten die ihr haupt verhüllen weil sie d a s nicht
haben kommen sehen und bei nur etwas fantasielosigkeit hätten sehen können

diese an der gegenwart vorbei in die zukunft eins zu eins umgetauschte
vergangenheit

die "gänsefüßchen" die der ddr dafür daß sie keine ist nun zu spät
zurecht zuwachsen

die eigentliche gefahr steckt in der musterhaftigkeit
'wir schaffen es' und andere machen uns das nach

die deutschen als beispiel und der wahnsinn der vollendung

von der angestrebten normalität aus wird der verlassene zustand
so unvorstellbar sein wie von ihm aus diese

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0910b

im grunde haben die russen für viel geld den deutschen ein stück
deutschland verkauft für welches sie fünfundvierzig jahre vorher mit
blut gezahlt hatten

die leistung besteht in dem fast staubfreien abriss des ostblocks
durch die russen und der übernahme durch die interessenten das volk
den westen das macht das ausmaß der unter günstigen umständen möglichen
steuerbarkeit sozialer vorgänge deutlich

die sogenannte friedliche revolution war dabei eines der angewandten
instrumente nicht der vorgang selbst

volksmund was die politiker angeht wie kann man sich von zonis bejubeln
lassen wenn man zonis kennt hellmut wir sind dein volk

der einzige lichtblick der verrückte ein gestörter anwalt aus dem
hannoverschen am rednerpult in berlin



mondgelbes wolkenauge

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0911a

fünfter oktober neunzig

zur buchmesse stellen die japaner das erste elektronische buch aus
einen flüssigkristallbildschirm im taschenformat mit einer einlegbaren
diskette auf der sprachzeichen gespeichert und abspielbar sind
seite für seite praktisch ein diskettenlaufwerk mit display



daß wir umwelt sagen zeigt schon fast alles
bisher hatte die industrie hinsichtlich der natur gegen ihre prinzipien
gewirtschaftet natur wurde zu null verbraucht daraus entstanden kosten
jetzt hat man einen weg gefunden natur nicht einfach zu verbrauchen
sondern industriell-technisch zu nutzen indem man aus ihr ein produkt
herstellt das sich mit gewinn vermarkten läßt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0911b

der warencharakter der umwelt

heute versteht die wirtschaft unter ökologie die profitabelste methode
der industriellen umweltproduktion

möglichst schonend
unter beibehaltung hoher naturbestandteile
vollwertumwelt
umweltfreundlich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0912

achter oktober neunzig

nochmal thema D

das bild von der ddr wie man es früher hatte dominiert jetzt wieder

man vergißt daß bis fünfundachtzig die leute eben nicht die armen
verwandten nicht mehr die brüder und schwestern waren

system und mentalität waren eine sehr enge symbiose eingegangen
das dort war so wie die leute und umgedreht

das nachdenken über die bundesrepublik unterbleibt

die beseitigung der ddr war unvermeidlich die wiedervereinigung war
überflüssig die haltung dazu war falsch

das problem der parteienoligarchie

es beschäftigen sich nun alle diejenigen mit der ddr die das vierzig
jahre lang nicht getan haben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0913

ende oktober neunzig

herbstbild
wolkengrimassen
spiegelverzerrt

herbstnachmittag
erst goldene
dann graue stunde

herbstgefühl
ich ficke
nicht mehr gern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0914

fünfundzwanzigster november neunzig

wolkenspiel
die insel der seligen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0915

neunter dezember neunzig

erste wirkung
des stillsitzens

wie eine brücke
über dem abgrund

die ahnung einer ahnung

flugversuch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0916

fünfundzwanzigster dezember neunzig

ich mißtraue
jeder friedlichen
revolution

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0917

ende dezember neunzig

innenpolitische situation 'zone'




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0918

neunter januar einundneunzig

ein datum
9 1 1 9 9 1



K. O. H. L.

oder
die attrappe als kanzler

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0919

achtzehnter januar einundneunzig

die mondin
boot mit rundem segel
die schale mit der kugel
goldener kahn mit schwarzer kugel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0920a

vierundzwanzigster januar einundneunzig

was macht das schreiben
fragt einer im dorf

schreib schreiber schrei




die welt schmerzt

bloß keine menschen

belletriste lust

eine januarstimmung
drei formen der gemütsbewegung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0920b

die sonde galileo
kann während ihres vorbeifluges an der erde
aus allen von ihr aufgefangenen signalen
fensehen telefon funk radio etc etc
nicht den schluß ziehen
dieses wären signale
intelligenter wesen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0921

fünfter februar einundneunzig

information
ist ware

zensur
eingriff in den markt

wir glauben nur
was wir nicht glauben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0922

siebenter februar einundneunzig

blauer storch
vor lila stämmen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0923

elfter februar einundneunzig

schmerzender
kopfleib

mürb
verschleißende hirnerei

ich bin mir selber zu anstrengend

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0924a

achtzehnter februar einundneunzig

vill brinkmann

mich bin ich los

manchmal
in kalten falten
alter mäntel
ein gedicht

und in strömen
regnen reden
und verzicht

wie verbrauchst du
all die dauer
der geschichte
steile mauer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0924b

schlaf doch nicht

schlaf der sich nicht lohnt
grab unbewohnt

saalbeleuchtung
treppensteigen
auf der fahrbahn nacht

nackt und alt
letztes ausweichen
menschenleib
zerknallt

ohne mich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0925

zwanzigster februar einundneunzig

mir klappern die eier

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0926

dreiundzwanzigster februar einundneunzig

der mondduft
der mondbaum
duftender mondbaum

luft die nach licht schmeckt
lichtatem lichtatmend
der atem des lichts

duftendes licht
atmender mondbaum

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0927

zweiter märz bis fünfzehnter märz einundneunzig

urlaub
ohne beschreibung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0928

erster mai einundneunzig

erster kuckuck
viele ameisen
weniger mauersegler
mehr schwalben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0929

zweiter mai einundneunzig

fundstück

sozialistischer gruß

wohin des wegs
immer der fahne nach

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0930

siebenter mai einundneunzig

erste nachtigall
erster fliederduft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0931a

siebzehnter mai einundneunzig

nachträgliche notiz zum thema D

in einem bericht wird ein mann erwähnt
der gesagt haben soll

'das beste wäre aus den resten der mauer
diese dreimal so hoch zu errichten'

bemerkenswert ist nicht der wunsch des haustieres
nach dem stall-sondern das rechenkunststück

aus den resten das dreifache
genau das ist die mentalität der 'zone'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0931b

nachtrag

in einer diskussion habe ich gewagt zu sagen daß freiheit
mir eher ihr kultivierter mißbrauch als ihr schlampiges
beim wort nehmen zu sein scheint denn es ist mir wichtiger
daß ich ein dichter bin als das die leute mich dafür halten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0932

dreissigster mai einundneunzig

hergottskirche creglingen
riemenschneideraltar
die hände der kleriker
und das gesicht der madonna

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0933

sechster juni einundneunzig

stuttgart
max ernst ausstellung

mit fast keinem bild
kann ich etwas anfangen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0934

fünfzehnter juni einundneunzig




dazu starke sonnenflecken
taifun vulkanausbrüche

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0935

einundzwanzigster juni einundneunzig

sonne sein
auf
unter
scheinen

holunderwind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0936

sechsundzwanzigster juni einundneunzig


schiller auf see

was sich
liebt
das
"leipzig"

schöne zone,
wo?

die kuh
am arsch
die wanderleiche
geigt

zu viele perlen
zu wenig säue

doch:schiller
auf see

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0937

fünfzehnter juli einundneunzig

sich lachend
  begattende
   wolkenschildkröten

fliehender
 wolkenengel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0938

neunzehnter juli einundneunzig

häuser

krumm und schief
wie alte weiber

humpelnde dächer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0939

dreißigster juli einundneunzig

gibt es eine 'gewisse' entlastung der sprache deutsch
durch den wegfall des ideologischen jargons ost oder
gerade die belastung des gewissens durch sprachgewinn

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0940

siebenter august einundneunzig

dem spiel der falken
schaue ich zu

dichter leben
vom leben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0941

achter august einundneunzig

ich träume von
adlern die ihren
fesseln entfliegend
aufsteigen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0942

neunter august einundneunzig


Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0943

elfter august einundneunzig

mit zehn tagen verspätung
erster akt geldarbeit

wohl seit langem eine geldarbeit die dem niveau der arbeit
angemessen war daher anstrengend interessant und im tempo nicht
zu beeinflussen deshalb den nächsten akt auch erst nach eigener
weiterarbeit um spannung und lust nicht wegzugeben jetzt reicht
es erstmal obwohl man natürlich bei der geldarbeit mit dem geld
schon rechnet bevor man anfängt

wolkensperma

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0944

dreiundzwanzigster august einundneunzig

spekulationen
eines königsdramas würdig

der putsch war eine falle in die man die konservativen
gelockt hat   matt

der unionspräsident müßte zurücktreten als seinen nachfolger
den förderationspräsidenten vorschlagen und selbst für den
freigewordenen posten kandidieren   rochade

russland spielt roulette

nieder mit jelzin

was im fernsehen zu sehen war
war eine schande
wenn es keine show war

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0945

fünfundzwanzigster august einundneunzig

derek humphrey
final exit
carol publishing
new yersey '91


kap 21


barbiturate


sehr leichte mahlzeit wahrscheinlich überhaupt vorher entlasten
pille gegen reisekrankheit oder 'pflaster' um das erbrechen zu vermeiden
dann gehortete schlaftabletten
der erste teil mit alkohol möglichst wodka
der zweite teil pulverisiert in pudding
wieder reichlich alkohol
dann plastiktüte über den kopf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946a

zweiter september bis erster oktober einundneunzig

dodekanos


3.sep

null uhr fünfzehn taxe nach würzburg ein uhr sechsundzwanzig
kärntenexpress bis münchen ankunft vier uhr neun taxe zum flugplatz
sechs uhr charter nach samos an neun uhr fünfundzwanzig taxe nach
pythagorion kA bewacht das gepäck erkundigung nach schiff und unterkunft
den ort angesehen abends gegessen am hafen wein getrunken

4.sep

gepäck untergestellt taxe nach samos-stadt gefrühstückt bank taxe
zurück vier stunden am strand gebadet gesessen und gegessen gepäck
geholt bis nachts halb zehn auf das schiff gewartet nachts fahrt nach
kalymnos

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946b

5.sep

früh gegen sechs uhr ankunft kalymnos ein mann aus der schiffsbesatzung
vermietet ein studio seine frau steht mit dem auto am hafen sie bringt uns
hin schlafen bis mittag einkaufen erste besichtigung der gegend abends
am meer

6.sep

melitsaha beach sind wir gelandet der ort heißt myrtea gegenüber ein
riesenberg telendos vormittags gang auf den berg hinter dem haus mittags
gekocht nachmittags am strand geschwommen sonnenuntergang mit metaxa

7.sep

von elf bis sieben abends zu fuß nach arginonda und zurück auf halbem
weg eine kapelle dort gebadet einfach und gut gegessen in der bucht
seltsames wetter kA quält sich mit migräne und einseitiger
pupillenerweiterung folge des reisepflasters

8.sep

kA geburtstag auf telendos sehr gutes essen lamm allein eine bucht
für uns langsam schlägt das wetter um

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946c

9.sep

früh wolken und wind busfahrt nach pothia und zurück lange gegessen
gesessen und gebadet abends wein am hafen von myrties

10.sep

ganzen tag auf telendos über die steine gewandert und gebadet abends
selbst gekocht

11.sep

vormittags herumgetrödelt und auf die dame zum bezahlen gewartet
telendos gegenüber kalymnos ist eine noch relativ ruhige gegend
in halber höhe auf einem ziegenpfad bis zu einem terrassierten plateau
ev theaterreste dann zurück und baden abends taverne gin und campari

12.sep

vormittags gepackt dreizehn uhr ab myrties nach leros in xerokampos
am hafen einfaches zimmer mit küche und badbenutzung zu fuß nach lakki
erkundigungen einkaufen mit dem taxi zurück abends terrasse mit ouzo

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946d

13.sep

taxi nach ag.marina umgesehen zum castel vom castel zum berg nebenan
alte bunker und artilleriestellung lange geschaut zurück eingekauft
gut gekocht gut gegessen guter wein

14.sep

früh bis mittags geschwommen und im wasser gestanden das letzte stück
fleisch als hacksteak mit kartoffeln und gedünsteten gurken und tomaten
siesta wieder gebadet ab halb fünf in das landesinnere hinter den hügeln
ganz plötzlich ist es wieder griechisch steinmauern terrassen esel ziegen
hunde alte ställe die steinmauern mit stachligem gestrüpp gekrönt auf dem
rückweg alte kirche auf der höhe hinter dem haus abendbrot aus der büchse

15.sep

vormittags gebadet es schwimmt sich mühelos ausgeruht dann wanderung zur
südöstlichen spitze der insel

16.sep

vormittags am hafen von ag.marina mittags nach lipsi ausgeruht erster
spaziergang eingekauft abends gesessen und geschaut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946e

17.sep

vormittags noch mal umgepackt getrödelt nachmittags gebadet dann gewandert
von der bucht auf den berg und auf der höhe um die bucht abends sehr gut
griechisch gegessen

18.sep

gebadet dann langer spaziergang an der nordwestkante dann hoch auf den berg
zurück und auf die ostseite gebadet auf der höhe entlang durch die stadt
zurück abends terrasse dem fischer beim kalamarisfang zugeschaut

19.sep

von elf bis fünf weiten weg über land nach süden bei dimitrios drei liter
wein gekauft und bis abends zehn getrunken zwischendurch kalamaris mousaka
aubergingen gegessen zehn uhr ins bett geschlafen bis früh halb neun

20.sep

vormittags und über mittag auf dem platz in der altstadt von lipsi ausgeruht
dann gebadet abends bis acht auf dem hang nordwestlich vom hafen zu gast bei
einem fischer auf seinem boot beim ouzo

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946f

21.sep

nach dem frühstück von elf bis acht auf den 'socken' durch das land
lange an einem olivenbaum am meer lange bei dimitrios dem weinbauern lange
an einer bucht dann gegessen dann zurück lange gesessen auf der terrasse

22.sep

vormittags geschwommen bis nachmittags ausgeruht abends auf die höhe
oberhalb der kirche über der bucht hinter dem hafen

23.sep

vormittags gepackt dann bis drei auf dem platz an der post gesessen
dann zurück und vier uhr mit dem boot nach patmos mit der taxe nach meloi
abends zu fuß nach skala eingekauft mit der taxe zurück vor dem
bauernhaus gesessen

24.sep

von elf bis sieben zu fuß von meloi über skala nach chora dort in die
plaka kloster höhle und zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946g

25.sep

vormittags ausgeruht nachmittags ausgeruht ab fünf spaziergang
über land sehr umständlich

26.sep

vormittags in der kirche apokalypsia außerhalb anwesend den schluß der
zeremonie erlebt feier des hl.johannes der apokalypse den feiertag gibt es
nur auf patmos nach einer nacht des bei vollmond üblichen wetterwechsels
wo die haut wie elektrisiert der ouzo alle und wir erst früh nach und nach
einschlafen

27.sep

vormittags gepackt über mittag am hafen skala gesessen vier uhr nach samos
abends etwas gesoffen

28.sep

vormittags gepennt dann zum wassertunnel efpalinion kloster spiliani
agia triada durch das tal nach mitilini kneipe auf dem dorfplatz gesessen
taxi zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0946h

29.sep

vormittags getrödelt über mittag geschwommen und das antike samos
angesehen in die areale des pauschaltourismus geraten schlecht gelaunt
zurück umgezogen mit dem taxi nach ireon hera tempel von außen gebadet
dann gut gegessen taxi zurück

30.sep

vormittags getrödelt ab mittags in der landschaft abends geschwommen
dann spaziert und gepackt

1.okt

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0947

etwas am menschen hat sich geändert beine lang und dünn die nicht
zum gehen sind körper die nichts mehr tragen müssen gesichter denen
denken und erleben fremd sind sobald es von einer nullage der zufriedenheit
abweicht hände die nicht arbeiten dazu der eindruck daß diese menschen
nicht schwitzen nicht stinken nicht bluten sie sind sauber wie teure autos
unter der motohaube die öffnungen des körpers durch eine cleanische
hygiene fast weggereinigt das furzt scheißt pißt fickt kotzt tobt rast
schreit beißt nicht mehr sondern ist nice kindly happy lovely light
ebenso die kleidung keine naturprodukte kaum leder leinen stoffe nicht
mal baumwolle sondern eine mischung aus sport und babykleidung bunt
einteilig synthetisch verdinglichend alle körperformen unerotisch stylend
verdesignernd schuhwerk nicht zum laufen gar wandern dafür gebilde aus
luftkammern jedes gelenk einzeln lenkend...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0948

unterhalb der steilwand an der westküste von telendos befindet sich
ein plateau vielleicht mit den resten eines theaters noch erkennbar die
spätere landwirtschaftliche nutzung und terrassierung jedenfalls ein
heiliger platz schräg links darüber eine felsenlinie der wir den namen
die maske von telendos geben hier wird deutlich wie entscheidend für das
theater ist daß es unter freiem himmel in der natur die menschen versammelt
(eine art geistiger futterstelle) sie bündelt bindet verbündet ('fesselt')
durch die kraterform des amphitheaters die naturbedingt ist und herkommt
von talkesseln buchten etc übrigens ebenso wie arena und stadion sind alle
eins in dem brennpunkt des spiels die achse hierarchisiert die anwesenden
den himmel die götter die elemente die erde das theater die zuschauer die
darsteller die stimmen die sprache das stück im augenblick der vollzogenen
achsendrehung in die waagerechte und der installierung des theaters außerhalb
der natur im geschlossenen raum ist alles vorbei ein falsch gewählter winkel
zwischen zwei verkehrten seiten ist das problem bis heute...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0949

wenn griechenland landschaft gewordene menschliche seele bedeutet hat
hölderlin auf deutsch ge-/erfunden den klang ton sang die wörter sind fast
egal wenn sie klingen sie setzen sich immer neu zu gesang zusammen das erste
mal begreife ich hölderlin ist mehr als ein dichter er ist ein sänger ich
kann diese landschaft ansehen und mir seinen tonfall ins herz rufen und
sofort beginne ich vor begeisterung zu 'heulen' mir kommen die tränen wenn
einem in griechenland eine erkenntnis kommt dann klipp und klar

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0950a

leros

noch sieht man kalymnos

zurückblickend zwei masken
liegend wie ägyptische mumien

die schmalheit der gesichter
vielleicht aus dem persischen kommend

xerokambos
ein ort mit eseln und ziegen
ein griechisches dorf heute

lakki dagegen ist furchtbar
nichtgriechisch
wie eine russische hafenstadt am schwarzen meer
kA ist schlecht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0950b

bäuerinnen am meer
sie kommen langsam heran
gehen im kleid
mit sandalen
ins wasser
stehen einige zeit still und gehen wieder
manche haben zwei kleider
und baden im zweiten oder waschen das erste
manche sammeln tang im strohut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0950c

lästerliche reden meinerseits und die strafe der artemis
folgt auf den fuß
ein stück im gelände
vormittags
erst ein stall mit zwei verzauberten schweinen
dann ein sausen
ein schlag
ein stich in den linken ringfinger
ein wespenähnliches vieh greift an
sticht zu
ist weg
der rächenden göttin wille geschieht
eilig ausquetschen bis blut kommt
aussaugen
ausspucken
das entsprechende gel drauf
aber es reicht auch so

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0950d

da ich abbitte tue versöhnt sich die göttin mit uns
und belohnt uns mit einem griechischen tal
einer herde von über hundert ziegen
einem in fünf verschiedenen arten rufenden
und laute ausstoßenden hirten
und einem augenblick sagenhafter verzauberung

artemis
die göttin der jagd
es ballert die halbe nacht auf tauben und kaninchen

zauber der artemis
ich ein schwein mit hundekopf und rotem halsband
kA eine nackte dienerin der göttin

kA sieht eine schlange mit einem ziegenbockskopf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0950e

schaut man von der südöstlichen inselspitze auf kalymnos
etwas über den westrand eines kleinen vorgelagerten inselchens
erblickt man aus felsen gebildet
das antlitz einer riesigen eule die nach norden sieht
die untergehende sonne beleuchtet sie gegen abend so
daß sie erst das rechte dann das linke auge öffnet

die nordseite vom meer aus
da sieht man das jagdrevier der artemis
weite braungelbe hänge
man sieht sie jagen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0951a

lipsos

der fischer bei dem wir wohnen fängt in einer nacht
drei kilo fisch

ägaische entfernung - seelenmeilen

über die hälfte des weges begleitet uns ein kleines mageres
schwarzes hündchen das so ausgehungert ist daß es nicht nur wurst
und pelle sondern auch strick und metallklammer frißt

am ersten abend eine art gleichnis
auf einem berg zwei pforten oder tore
eines dunkelschwarz
golden beleuchtet das andere
am nächsten morgen
das dunkele war der offene
das leuchtende der geschlossene
torbogen eines hauses

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0951b

dimitrios wein
riecht und schmeckt wie die erde
über die gerade eine ziegenherde hinweggezogen ist
man kann ihn ohne probleme in der sonne trinken
in großen schlucken
unmöglich ein wein zum nippen und kosten
es gibt einen süßen dunkleren wärmeren roten und einen gelblich helleren
der noch mehr nach erde und ziege schmeckt
beide weine naturtrüb
drei stunden im rucksack gerüttelt machen ihm nichts aus

ein uralter olivenbaum
die einzelnen windungen des stammes so ineinander verdreht
daß es scheint er bestünde aus unzähligen augen
ein augenbaum
durchmesser etwa anderthalb meter
stark beschnitten
an den neuen trieben trug er bereits wieder oliven

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0951c

die nacht kommt von oben
wenn es unten dunkel ist
ist es oben wieder hell

an einem hang nördlich vom hafen gibt es einen stall
wo bei sonnenuntergang alle steine sich beleben
ein strenges frauenporträt
ein kugelrunder mond oder windsgott
eine frau ein mann
wesen der kalypso

es gibt kirchen
die wie kinderzeichnungen aussehen
naiv gebaut
weiß und blau

von der höhe aus
am abend
die sonne über patmos

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0952a

patmos

in der mittagspause haben wir vor dem kloster auf dem felsen gelegen
ausgestreckt im schatten
vielleicht war da etwas zu spüren von der bedeutung die der ort hatte

das byzantinische orthodoxe ist mir fremd

neunzehnhundert jahre wirken entfernter als antikes
welches älter ist

die höhle ist sicher so merkwürdig wie alle höhlen es sind
sie liegt auf fast halber höhe unterhalb des klosters
im scheitel eines tales mit blick nach osten
was sich als perspektivischer irrtum herausstellt
sie ist viel weiter 'rechts'

es ist eine nicht vorstellbare angelegenheit
außer man denkt sie sich von der schriftstellerischen
und politischen seite her

alles kreist um die idee des offenbaren

und zwar um den seelischen zustand der da offenbar wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0952b

der ja nicht nur ein individueller
der vielmehr ein kollektiver ein zeitzustand war
die wirkung muß gewaltig gewesen sein
vielleicht muß man es unter diesem gesichtspunkt lesen

aber kann man seelische zustände aufsuchen

andererseits ist das offenbarwerden ein psychischer entwicklungsvorgang
der individuell auch heute noch erreichbar ist

damals aber brach sich offenbar die wucht und größe
eines kollektiven ES bahn

johannes ist ja nicht sänger nicht profet nicht dichter

diese großabrechnung der offenbarung paßt wie der schlußstein
in die konstruktion des ganzen
sie hat noch gefehlt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0952c

verständlich es geht um ende tod gericht als letzte entgegenstellungen
zur hoffnungslosigkeit des sich abzeichnenden scheiterns

zur bildlichen darstellung
die ikonographie verdeckt alles
aber es gibt links neben der treppe im klostermuseum
die zum zweiten stock führt
einen christus im roten gewand
der enorm ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0953

samos

hera tempel
heiliges das man errichten muß

kA von hera 'angeweht' findet ihr griechenland wieder

irgendwann sagt sie löst sich alles in himmel auf

der dichter erzählt gott von sich
der sänger singt gott
der profet zeigt was der seher sieht
seher begegnen gott

ich bin mein ES als dichter
alles ist eine frage des perspektivwechsels
ich sehe mich mit den 'augen' meines ES und schaffe mich neu
von meiner lichtgestalt aus

auf dem heimflug
ein gierartiges bedürfnis deutsch zu sprechen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0954

nachtrag I

sieht man alten bauern bei der morgendlichen arbeit zu
wieder die frage
warum sammelt niemand die handgriffe der menscheit

tour-ismus
die ideologie des die welt umrundens
wirkliches reisen wahrscheinlich nur noch univers
also psychisch er-fahrbar

kalymnos die insel des todes
leros die insel des abschieds
lipsos die insel der stille
sagt kA
sie fühlt sich verjüngt

man altert von den händen her

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0955a

nachtrag II

so sind wir bisher nicht gereist

ohne not ohne zwang aber wissend aber gewollt

es war ein geführtwerden ein getragen sein
leicht schön unverstellt
ohne anstrengung der falschen art
und doch so einsehbar notwendig
so dringend erwünscht ersehnt

kA als engel und führer
wie auf einer dantereise
von der welt der toten
bis zur welt des lichts
der profetie
'empfangenden samens'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0955b

dieses gefühl der einladung durch den engel
vor und während der reise ganz stark

schon vor der abfahrt
die arbeit plötzlich in einer plastizität wie nie zuvor
riesig im vordergrund

ES hat sich eingeladen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0956

achter oktober einundneunzig

ende
der griechenreise

nachts
alles noch einmal als traum

am abend
gespräche mit kA

sie sagt

in griechenland
ist jedes ding
gott

in afrika
ist gott
stimme

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0957

zwölfter oktober einundneunzig

früh
rosa nebel

abends
noch zirpen die grillen

kymatik

die wissenschaft von den klangbildern
den sichtbar gemachten schwingungsstrukturen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0958

zweiundzwanzigster oktober einundneunzig

drei tage arbeit und ich bin so unsichtbar
daß man mir weder guten tag sagt noch wurst verkauft

nachts

mond
umkränzt von wolkengold

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0959

dreiundzwanzigster oktober einundneunzig

kalt

doch immer noch
grillen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0960

sechsundzwanzigster oktober einundneunzig

kinderweisheit

um wen der
mond tanzt
dem wachsen
flügel

um wen die
sonne tanzt
dem leuchtet
heiliger schein

um wen die
sterne tanzen
der trägt
die krone

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0961

erster november einundneunzig

vor vier tagen
frost

der ahorn verliert
an einem tag
sein laub

der herr
mit dem ring
am elften finger

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0962

dreizehnter november einundneunzig

      im
verlag der tauber
    gamburg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0963

dreiundzwanzigster november einundneunzig

giftgelb im acker die jauche quillt
hundsjaulen bläht die fäulnis
auf seinem hof der bauer tobt
schreiend schaufelt er kot

nach aktenlage waren alle bei der stasi
bis auf die stasi

aber da sie den begriff der wahrheit verloren haben
ist es ganz sinnlos ihnen vorzuwerfen daß sie lügen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0964

fünfundzwanzigster november einundneunzig

aus einem film im fernsehen
sinngemäß

um ein land zu einigen
muß man seine gangster zusammenbringen

ein schalck wer schäubles
dabei denkt

hallo herr OibEr

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0965

sechsundzwanzigster november einundneunzig

wohltuende un-und-nicht-lust
laßt meine sinne in ruhe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0966

achtundzwanzigster november einundneunzig

seit ich drei sätze zum thema sonnenuntergang notiert habe
war keiner mehr
seit sechs tagen nebel
nachts gerade mal ein stern
wie abgeschnitten vom rest des weltalls kommt man sich vor

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0967

fünfter dezember einundneunzig

sterne himmel nacht
endlich

nach vierzehn tagen
zäh wie nebel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0968

neunter dezember einundneunzig

mondfisch

der mond
hat einen
stern
verschluckt

und ihn
wieder
ausgespuckt




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0969

zehnter dezember einundneunzig

cyber space

kybernetische räume gehen über das buch
als räumliches sprachzeichenensemble hinaus

man erscheint als teil des geschehens
wie in einem anderen leben

die ideologie als künstliche geistige umgebung
ist technisch realisiert
die ersetzung des geistigen ist total

die gegenthese

aus diesen techniken erwächst innovation
mediale kommunikationsmittel und soziale randgruppen
ergeben energie kunst artikulation

es bleibt beim ersten schrei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0970

fünfzehnter dezember einundneunzig

saulaunig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0971a

neunzehnter dezember einundneunzig

ich habe den eindruck die ddr hat sich durch ihren beitritt
zur bundesrepublik diese einverleibt so überzogen
von 'zonenmäßigkeit' ist alles

moskau ändä gutt alläß kaputt glaubt wirklich einer das ginge
dieser sogenannte zusammenbruch in geordneten bahnen
man staunt immer wieder wie viel 'tiefer' die chinesen da denken
auch oder trotz des furchtbaren

das radio meldet die englisch-amerikanische entwicklung eines chips
der entsprechend der menschlichen hirnzelle kostruiert ist und auch so
funktioniert das sei voraussetzung für die erforschung der hirntätigkeit
und die herstellung hirnähnlicher computer also neuronale vernetzung
statt linearer schritte es sei der durchbruch...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0971b

...also noch ein oder zweitausend jährchen und wir sind uns los
angesichts dessen was wir hinterlassen fragt unsere intelligenz
vielleicht selbst nach ihrem eigenen versagen
müßte sie intelligenterweise nicht darauf verzichten sich ins
universale zu extrapolieren aber sie kann das nicht
wie der mensch wenn er seinen geist aufgibt materiell verfällt
so die erde wenn die menschliche intelligenz sie aufgibt
die erde eine art ei in dem unsere intelligenz ausgebrütet wurde
um nun irgendwann die hülle zu durchbrechen hänschen klein
spaziert chipsvergnügt in die weite welt hinein um irgendwo
das programm seiner ei-weißen evolution fortzusetzen...
als sozusagen chemischer computer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0972a

nachträge dezember einundneunzig

dorfleben


annäherung als der versuch bis in den äußersten winkel
des abstands sich zu versichern vgl hölderlin maximen


russland


'im nachhinein hat eigentlich nur der jelzin etwas von dem putsch
gehabt...' sagen die leute und dem gorbatschow wirft die welt nun vor
daß er das imperium weich wie eine seifenblase hat zerplatzen lassen
sich aber geirrt hat über den fleck und seine ränder den das ganze
hinterläßt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0972b

ostdeutschland


die methoden des gegenseitigen bespitzelns erinnern fatal
an gewisse selbstverständlichkeiten des sächsischen alltags
das sächsische also auch unter diesem aspekt typisch
durch die akteneinseherei verlagert sich das natürliche interesse
der leute die kleinen sachsen zerfleischen sich gegenseitig
die wirklichen stasis geraten stattdessen in den zustand
von außerirdischen sie sind unter uns jeder kann es sein
'alle wissen nichts'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0972c

credo simplex


die erde
ist nicht zu halten

das biologische
geht zu grund

das bewußtsein
macht seine zustände
apparativ reproduzierbar

der apparat
emanzipiert sich und geht ins all

unsere intelligenz
läßt uns hinter sich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0973

neunter januar zweiundneunzig

ein fall

die akte etwa dreizehnhundert seiten
der bespitzelungszeitraum einundzwanzig jahre
das sind eins komma zwei seiten die woche
bei einer rundumdieuhrbeschattung nicht grade viel

banale details
mechanisch kombiniert

technisch-organisatorisch
erinnert der 'apparat'
an frühe großrechner

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0974a

vierzehnter januar zweiundneunzig

nicht der falsche kommunismus ist zusammengebrochen
sondern der kommunismus ist zusammengekracht
weil er falsch ist

mit den fehlern die der kommunismus gemacht hat
wäre auch der kapitalismus zugrunde gegangen

oder ist andersherum bemerkenswert an diesem
daß er mit fehlern lebt gar von ihnen profitiert
die jedem anderen system den rest gegeben hätten

das soziologische desaster im osten
deutet auf den zusammenbruch hin
der uns erwartet

das ende hat viele anfänge

der kollaps der udssr ist einer davon

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0974b

die leute reißen die katastrophe aus dem zusammenhang
der eigentlich die katastrophe ist

es ist ja nicht so daß nur da und dort
unsere lebensvoraussetzungen wegbrechen

wir stürzen insgesamt

wir sind längst zum fall geworden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0975

sechzehnter januar zweiundneunzig

es wäre klüger gewesen
die letzten beiden wochen
eine erholsame pause
gemacht zu haben

auf der suche
nach meinem verlorenen verstand

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0976

zwanzigster januar zweiundneunzig

der außenminister läßt ankündigen
die verträge würden 'bald' unterschrieben

die opposition bezeichnet sich
'als zur zeit nicht in form'

nachrichten aus einem deutschen kaspertheater

deutschland versumpft im idiotismus
sagt kA

januarstimmung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0977a

einundzwanzigster januar zweiundneunzig

es braucht zwar fünfzig jahre
bis eine gedenkstätte
in dem haus am wannsee eingerichtet wird

aber es macht sich bereits verdächtig
der unaufgedeckten stasiererei

wer nicht am zweiten januar
die einsicht in die akte beantragt hat

hat er sie beantragt
ist er auch verdächtig
der eile wegen

gegenüber westdeutscher anmassung
könnte etwas ostdeutsche arroganz nicht schaden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0977b

durst bei frost

rauhreife saufsucht

o kaschemmen

     dampfende

  bierställe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0978a

neunundzwanzigster januar bis fünfter februar zweiundneunzig

gamburg allgäu gamburg

29.jan

bis greggenhofen kleine siedlung bei rettenberg
blick auf die berge sonne

30.jan

kleines walsertal mit der kanzelwandbahn
auf das walmendinger horn

31.jan

riedberg paß sibratsgfäll rindberg und zurück

1.feb

ganztags auf dem nebelhorn bei oberstdorf

2.feb

hindelang oberjoch beim weltcup der freistilskispringer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0978b

3.feb

autofahrt über immenstadt oberstaufen aach krumbach hittisau
alberschwenden egg mellau au damüls fontanellapaß in das tal
bis vor feldkirch die landstraße zurück bis dornbirn und über
alberschwenden zurück

4.feb

im schnee spaziert zu bett gelegen

5.feb

zurück

fünf tage trocken sonnenschein
ein tag schnee

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0979

dreizehnter februar zweiundneunzig

vor einigen tagen hat kA
etwas aus meinem nabel entfernt
wovon sie behauptet
es wären reste meiner nabelschnur

'dein anfang!...'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0980

zur faschingszeit zweiundneunzig

cogito
ergo dumm

zu deutsch

ich denke
also spinn' ich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0981a

nachtrag mitte februar bis ende mai zweiundneunzig

die geschichte der ddr
reicht als anfangsverdacht
gegen jeden an ihr beteiligten



     IM

inoffizieller mitarbeiter

informeller mitarbeiter

interessierter mitarbeiter

interessanter mitarbeiter

informierter mitarbeiter

internationaler mitarbeiter

irrsinniger mitarbeiter

intimer mitarbeiter

illegaler mitarbeiter

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0981b

zur öffentlichen sprache


überall wird geredet
von größe verantwortung auftrag aufgabe verpflichtung
daß die zeit der schlappheit vorbei sei
daß wir uns nicht dahinter verstecken dürften
daß wir ran müßten
daß man von uns etwas erwartet
daß wir zeigen müßten daß uns klar ist daß nichts mehr ist
wie vorher
entschlußkraft und entschiedenheit


im fernsehen bezeichnet der reporter
den ersten mann einer eishockey-dreiergruppe
als sturmführer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0982

neunzehnter mai zweiundneunzig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0983

einundzwanzigster mai zweiundneunzig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0984

nachtrag...

je länger man lebt
umso kürzer kommt
einem das leben vor

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0985

nachtrag...

sich selber
in den arsch zu kriechen
um eher da zu sein
als der
der einem hinten rein will
das auch
ist sächsische lebensart

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0986

nachtrag...

die bewältigung

deutsche art
geschichte zu vertreiben

vergangenheiten
rote braune

westdeutsches
das ostdeutsche

und der vorwurf
des versäumnisses

der zurückgewisen wird
nicht vom volk der nation

sondern
vom berufenen deutschen
dem typus des amtlichen

dem deutsch
vorschrift ist
und bestimmung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0987

nachtrag..

olympische winterspiele

die sportarten
beginnen sich
nach den fernsehgewohnheiten
des publikums zu richten

kurze
dramatische
eindimensionale
höhepunkte

wettbewerbe
die
momente sind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0988

einundzwanzigster april bis sechster mai zweiundneunzig

borkum

ein streifen wasser
zwischen sand und himmel

leere figuren

stummschaltung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0989a

anfang juni zweiundneunzig

nimmt man den marxismus
die korrekturutopie

und was in den einhundertfünfzig jahren
seiner versuchten verwirklichung
daraus geworden ist

läßt sich dann überhaupt erahnen
die unglaubliche mißgestaltung
des christentums
in zweitausend jahren

nicht beschränkt
auf den aspekt der raubreligion

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0989b

jedenfalls

erst mit dem zusammenbruch
des europäischen kommunismus
scheint diese art christentum
vervollständigt zu sein

vor uns liegt das erste
nichtchristliche jahrtausend

und wenigstens die nächsten
einhundert jahre
sollte man aufhören
sich mit den letzten
zweihundertfünfzig jahren
zu befassen

es wäre eine erholung

der gegenwart

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0990

elfter juni zweiundneunzig

kA profezeit
"unruhen in deutschland"

ossis
die verknöcherten

wessis
die aufgeblasenen

(nach dem französischen)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0991

fünfzehnter juni zweiundneunzig

friedhof

kruzifix
vor jasminstrauch

christus
im blütenmeer

auf einer
blütenwolke



politik

die teilung deutschlands
wird mit der wiedervereinigung
vollendet

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0992

elfter juli zweiundneunzig

politik
eröffnung der 'ostfront'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0993a

dreizehnter juli zweiundneunzig

was wenn das 'geheime wissen der regierungen' über ufos außerirdische
und die bedeutung der zeichen im korn im fall es gäbe es etwas zu tun
hätte mit einer realen gefahr wie es der beinahe-zusammenprall mit dem
neunundachtziger kometen gewesen ist wir könnten mit keiner warnung
etwas anfangen weil uns nicht zu helfen ist

je weiter zurück man den letzten 'knall' dieser art datiert umso
näher rückt der tag seiner wiederholung zur zeit ist man bei ungefähr
siebzig millionen jahren und lokalisiert das ereignis also den treffer
im golf von mexico und bringt als folge das aussterben der bis dahin
erfolgreichsten art der saurier in den zusammenhang

bei POE hat man zittern und zähneklappern schreien und beten vorher
und neunundachtzig obwohl man teleskope hatte die das herannahen lange
vorher bemerken konnten obwohl die entfernung des vorbeifliegenden nur
anderthalb erde mond abstände betrug und obwohl bei einem einschlag eine
energie frei geworden wäre die ein mehrfaches der atomarsenale beider
supermächte zusammen betragen hätte...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0993b

...gab es keine dankgottesdienste besserungsschwüre oder bewußtseins-
erweiterungen keine regierungserklärungen etc etc nachher
was ist der grund dafür

bei POE hat der komet eingeschlagen

man fragt sich warum sich die christlichen kirchen diesen vorgang
haben entgehen lassen man sagt ja es sei die dritte und geheimste
voraussage der fatima gewesen

die antwort ist leicht

ein mensch kann glauben eine kirche nicht kein mensch glaubt
sinnvollerweise derart an gott daß dieser die mechanik der schöpfung
außer kraft setzt um die bahn eines kometen zu verrücken also kann
sich eine kirche nur blamieren egal ob der körper die erde trifft
oder nicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0994

zweiundzwanzigster bis sechsundzwanzigster juli zweiundneunzig

autoausflug

'rest' deutschland
mosel saar kaiserstuhl schwarzwald

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0995

dritter august zweiundneunzig

mondballerina
wolkenpirouette

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0996

achter august zweiundneunzig

cumulusvulva
mit
solarclitoris
und
astralhymen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0997

einundzwanzigster august zweiundneunzig

musik mahler

etagenbrunnen

mehrstufig quellende
fontäne

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0998

achtundzwanzigster august zweiundneunzig

nacht
eulen im baum

glühende augen

der baum
ein eulenkopf

glühender eulenkopfbaum

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    0999

nachtrag august zweiundneunzig

wolkenbild
eine geburt

gott
in der hand
das menschenkind

gott
als entbinder
als ent-binder

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1000a

fünfter bis siebenundzwanzigster september zweiundneunzig

ulaubsfahrt österreich

5.sep

über donaustauf walhalla bayerischer wald nähe freyung

6.sep

über philipsreuth böhmisch budweiß nach laa an der thaya

7.sep

über nikolsburg breclav bratislava szombathely rechnitz
in die nähe von hochneukirchen (höhwirt)

8.sep

kA geburtstag fahrt nach rechnitz
dann in das weingebirge zum wein
über geschriebenstein lockenhaus zurück

9.sep

bei anstrengendem wetterwechsel autofahrt durch die bucklige welt
krummbach lichtenegg kaltenburg hollenthau kirchschlag bernstein
maltern hutwisch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1000b

10.sep

vom höhwirt über die autobahn graz klagenfurt in das
naturschutzgebiet der nockberge zunächst turracherhöhe
in der pension alpenrose

11.sep

acht stunden wanderung kornock rinsennock über die
winkleralm zurück

12.sep

acht stunden rückwärtig königstuhl und zurück

13.sep

in das mölltal zum ankogel mit der schwebebahn dann
zurück zum dicktlhof

14.sep

ganztags dagesessen pferden und katzen zugeschaut

15.sep

wanderung vom dicktlhof zum rinsennock turrach grünsee
saureggen dicktlhof

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1000c

16.sep

zum hang unterhalb rinsennock dagesessen

17.sep

zur folkertspitze und zurück

18.sep

zum großen königstuhl und zurück

19.sep

autofahrt nach obertauern murtal paalbachtal ohne geschick
erkältet und halbzeitflaute

20.sep

erkältet gelesen 'jagdgeschichten'

21.sep

zum schoberriegel auf der höhe bei hagel und regen zurück

22.sep

weiterfahrt ins lammertal im tennengebirge quartier
und ausflug zum dachstein

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1000d

23.sep

zur gappenalm noch weiter und zurück

24.sep

regen ich lese kA vor walter scott ivanhoe

25.sep

acht stunden scharfer steig richtung laufener hütte
bis zum felsbeginn und zurück

26.sep

sieben stunden zum ende des lammertals

27.sep

über wolfgangsee attersee mondsee zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1001

zehnter oktober zweiundneunzig

in der garage
ein riesengroßer hirschkäfer

der von vor vier jahren
sagt kA

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1002

zwölfter oktober zweiundneunzig

wolkenbild

ein panzer
mit zwillingsgeschütz

dahinter
ein blutrot geriffeltes
wolkenschlachtfeld

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1003

einundzwanzigster oktober zweiundneunzig

"die idee wird zur materiellen gewalt
wenn sie die massen ergreift" -

gibt es eine bessere definition der dummheit ?!

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1004

sechsundzwanzigster oktober zweiundneunzig

der "deutsche"

diese mischung
aus streß und beleidigtheit

immer nimmt er übel
nie hat er zeit

verhüllt grollend

wie seine einstigen götter

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1005

achtundzwanzigster oktober zweiundneunzig




mond und stern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1006

einunddreißigster oktober zweiundneunzig

tendenz

immer teurer
immer schlechter

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1007

dritter november zweiundneunzig

was habe ich erreicht ?

bin ich einen schritt weiter ?
gebe ich nicht auf ?

bin ich keinen schritt weiter ?
gehe ich drauf ?

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1008

vierter november zweiundneunzig

im anschluß an die frage
wieso duzt man einen hund

die frage
wieso duzt man gott

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1009

einundzwanzigster november zweiundneunzig

schicksal
ist zeit mal zufall
sagt ein englischer philosoph

dann haben
die meisten
keins


das hubbleteleskop sieht erstmals ein schwarzes loch
fünfundvierzig millionen lichtjahre von uns entfernt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1010

dreiundzwanzigster november zweiundneunzig

alle ausländer raus -
aus'm ausland

ein kabarettext

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1011a

achter dezember zweiundneunzig

dienstag
8.XII.92
6 Uhr 35 MEZ
asteroid "Toutatis"
Durchmesser 3 km
Geschwindigkeit 140.000km/h
Entfernung 3,5 Mill km

an der erde vorbei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1011b

deswegen vermutlich hat der pabst die madonnenstatue
aus dem schrein geholt vor wochen denn schon vor wochen
war die bahn des asteroiden so berechenbar daß der
zusammenstoß sich ausschließen ließ


und deswegen steht es hinterher auch in der zeitung


aber im jahr 2004 kommt der "Toutatis" wieder
dann ist der abstand nur noch 1,6 Mill km


1889 fatima III   1993 "Toutatis"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1012

ende dezember zweiundneunzig

politik
verbrecherischer machterhalt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1013

anfang januar dreiundneunzig

weihnachtsoratorium
als musical


das ende eines alten
und den anfang eines neuen jahres
durch die lektüre eines großen romans
verbinden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1014

sechster januar dreiundneunzig

der feigling

ehe er sich
selbst belügt

sagt er lieber
anderen die wahrheit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1015

achtzehnter januar dreiundneunzig

es wird schon wieder ein unterschied gemacht
zwischen kunst und kultur derart daß kunst
auf keinen fall ein teil der kultur ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1016

einundzwanzigster januar dreiundneunzig

ein orgasmus

wie
ein einzelner windhauch

über
einem stehenden wasser

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1017

zweiundzwanzigster januar dreiundneunzig

orgasmus

der körper krümmt sich
wie eine aufgebogene
haarnadel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1018

vierundzwanzigster januar dreiundneunzig

ein orgasmus

als klappte das verdeck
eines wagens zurück

oder zöge die hülle
von einem denkmal

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1019

fünfundzwanzigster januar dreiundneunzig

wolkenbilder

die eule
auf dem schwan

sich begattende
schneemänner

ganze michelangelofresken
reliefs und sixtinische
deckengemälde


ein orgasmus

wie der taumeltanz
eines vom sturm
entwurzelten baumes


es schneit waagerecht
von rechts nach links

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1020

erster februar dreiundneunzig

in einer dreieinhalbminutensendung
drei grammatische fehler
das nimmt noch zu
überall

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1021

vierter februar dreiundneunzig

es beginnt wieder
das ideologisieren

in der politik
und anderswo


mondin
in lichtscheibe

aus glutfarbenem
kupfer und gold

messingklang
bronzestrahlend

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1022

sechster februar dreiundneunzig

orgasmus

wie das schießen
einer 'fahrkarte'

wenn man
daneben trifft

luftlöcher
lustlöchrig


orgasmus

elektroschockartig

"schäumend
sich bäumend"

fallsüchtig
veitstanzstampfend

mit ratternden gelenken

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1023

zwanzigster februar dreiundneunzig

grundregel
für dichter auf dem lande

"dein hochmut aber
sei größer denn der
eines jeglichen bauern
denn siehe er kommt
nach dem fall"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1024

zweiundzwanzigster februar dreiundneunzig

schaltbild fünf fertig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1025

dreiundzwanzigster februar dreiundneunzig

als hätte ich geburtstag




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1026

sechsundzwanzigster februar dreiundneunzig

abendmondsichel
rosa weißgold
vor grüngrauem
nachtwolkengetüm

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1027

siebenundzwanzigster februar dreiundneunzig

mondlich verschleiertes
antlitz
der nachtbraut

torso des mondes

nächtlich verschleiertes
antlitz
der mondbraut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1028

siebenter märz dreiundneunzig

die 'deutschen' lieben ihre sprache nicht sie hassen sie nicht
gar nichts nicht einmal gleichgültigkeit sie besitzen kein
sprachbewußtsein keinen charakter keine haltung der eigenen sprache
gegenüber und dem was sie ist sie ersetzen das durch förderalismus
und sie sind unfähig ihre probleme auf geistigem wege zu lösen
sie vergewaltigen die wirklichkeit wo sie sie nicht verdrängen
doch noch mehr als die wirklichkeit verdrängen sie die tatsache
daß sie sich weigern sie zur kenntnis zu nehmen sie sind schnell
beleidigt und eine fast manische spendenwut ("spende wut") ist der
gipfel der zuneigung offenbar katholisch iniziiert ist das eine
weiterentwicklung des einstigen ablaßhandels die eigene bequemlichkeit
sich von anderen als verdienst anrechnen zu lassen

und sie leben ihre sprache nicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1029

fünfzehnter märz dreiundneunzig

die luft
riecht und schmeckt
wie frisches wasser

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1030a

zwanzigster märz dreiundneunzig

orgasmus

wie man
den letzten
schluck

aus einem glas
wegkippt

oder
krümel
von der tischdecke
schnipst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1030b

oder
eine kippe
ausdrückt

oder
einen stuhl
umstößt

oder
aufsteht
und weggeht

oder
eine tür
zuschlägt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1031

dreiundzwanzigster märz dreiundneunzig

es gibt tage
wo man
das gefühl hat

verkehrt herum
am sack zu hängen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1032

sechsundzwanzigster märz dreiundneunzig




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1033

achter april dreiundneunzig

das gefühl

als hätte
man wasser
in den eiern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1034

fünfzehnter april dreiundneunzig

wolkenbild

ein
im himmel
rückenschwimmender

zeus


das
vollbärtige
kinn

rund
nach oben


die arme

horizontbreit
ausgestreckt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1035

einundzwanzigster april dreiundneunzig

der frühling kommt
wie die erste schönheit
eines mädchens

er blüht
von innen
nach außen

es ist ein frühreifer
ein erotischer frühling

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1036

dreiundzwanzigster april dreiundneunzig

die erste schwalbe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1037

vierundzwanzigster april dreiundneunzig

der burghund
frißt ein
eichhörnchen

der erste kuckuck

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1038

erster mai dreiundneunzig

nach dem hagel

die luft
paradiesisch

ein duft
aus sekt

und geschnittenem gras

vormittags
die erste nachtigall

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1039

fünfter mai dreiundneunzig

vorschlag

die verfassungsgemäßheit und rechtstaatlichkeit
der wiedervereinigung zu überprüfen und eventuell
diese wiederholen zu lassen



die ddr ist was uns allen noch bevorsteht



apropos

die ersten mauersegler

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1040

achter mai dreiundneunzig

herrgottskirche creglingen

ich vermute daß der riemenschneideraltar früher 'durchsichtig' war
so daß er selbst wie eine filigrane lilienartige blüte im raum wirkte
heute erinnert er eher an eine erzgebirgische weihnachtspyramide

in der gleichen kirche gibt es einen altar auf dem alle beteiligten
'irgendwie' lächeln feixen grinsen grienen auch der christus

und alle figuren wirken wie behinderte oder verwachsene

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1041

zwölfter mai dreiundneunzig

deutschland
zone in west


orgasmus

wimmernd
vor verzweiflung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1042

achtzehnter mai dreiundneunzig

zitat

frédéric bastiat
1801-1850


"Der Staat ist die große Fiktion,
mit deren Hilfe sich jeder bemüht,
auf Kosten aller zu leben."


zumindest
definition des beamten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1043

zweiundzwanzigster mai dreiundneunzig

trio

eule frosch gans

erweitert durch
huhn und kuckuck

dorfmusik

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1044

vierundzwanzigster mai dreiundneunzig

viele mäuse und würmer
die vegetation ist vier wochen voraus
trockenheit
die vögel sind gelähmt 'wie vom ozon'
sie lassen sich überfahren
eine eule landet nachts auf dem fenstersims
und schaut in das beleuchtete zimmer
zwei rosen die seit monaten verblüht waren
treiben neue blätter die eine auch wurzeln

ein merkwürdiger wunderfrühlingssommer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1045

fünfundzwanzigster mai dreiundneunzig


es gibt sie
nicht mehr

die feldwege
aus gras gestein
und warmem sand

die staubigen zehen
fußabdrücke
und radspuren

in pferdeäpfeln
und kuhfladen

woanders vielleicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1046

fünfter bis zwölfter juni dreiundneunzig

bschlabs tirol

5.jun

fahrt gamburg bschlabs

6.jun

die gegend besehen

7.jun

vorm stanzach nachm spaziert

8.jun

zur namloser wetterspitze

9.jun

ausgeruht

10.jun

zur anhalter hütte

11.jun

die gegend besehen

12.jun

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1047

ende juni dreiundneunzig

lektüre
wetter
gesöff

machen
wahnsüchtig

der rest
verursacht

geistige
übelkeit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1048

anfang juli dreiundneunzig

orgasmus

wie der
eines anderen


orgasmus

ein einseitiger
dialog

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1049

zwanzigster juli dreiundneunzig

unschwer vorherzusehen
das kommen einer zeit
in der niemand mehr
die macht haben wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1050

einundzwanzigster juli dreiundneunzig

sonnenblumen

blumen
die einen ansehen

blumen
denen man ins auge sieht

blumen
mit gesichtern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1051

achtundzwanzigster juli dreiundneunzig

deiner brüste
spitze spitzen spitze
meines glieds

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1052

neunundzwanzigster juli dreiundneunzig

auch wenn ich es selbst
noch nicht glauben möchte

die demokratie in deutschland
ist vorbei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1053

dreissigster juli dreiundneunzig

4 Uhr 02
"sternschnuppe"
so intensiv
daß noch ca 4 sec ein lichtstreifen am himmel stehen blieb

vorher
ca 2 Uhr 45
das "erlöschen" eines sterns beobachtet
ein lichtpunkt der plötzlich "weg" war...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1054

nachtrag august dreiundneunzig

man muß
beim erfrieren
den kopf frei lassen

da entweicht
die meiste wärme


der moderne staat
ist ein erfolgreiches verbrechen


die alte musilsche/poppersche idee
der partiallösungen dient heute zur
'erhaltung' der probleme...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1055

dreiundzwanzigster august dreiundneunzig

fischiges sperma

ich träume
von scheiße
von exkrementen
von kot und kacke
von stundenlangen stuhlgängen
fäkalen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1056

elfter september dreiundneunzig

die schwalben
sammeln sich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1057

vierzehnter september dreiundneunzig

herbst anfang

der wald wird grau
der wald kriegt graue haare

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1058a

fünfzehnter september bis zehnter oktober dreiundneunzig

gamburg bornholm (calau coswig meißen) zurück

einmal gebadet

die ostsee das meer das immer rauscht

die ostsee mit dem gekräuselten rand

bornholm
kirschbäume am meer die meerkirsche

die sehnsuchtslosigkeit dieser tage am meer

die see im sternenschein (kA)

wölsickendorf
das gefühl die steine haben uns wiedererkannt
wir segnen sie mit kornschnaps

im osten
die leute haben einen gestörten selbsterhaltungstrieb (kA)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1058b

autobahn A9
die arme scheißzone was hat man aus ihr gemacht

meißen
der westen ist so auf den hund gekommen
daß er gerade ausreicht für die vorstellung
die die zonis sich von ihm gemacht haben

deutsches modell

vergessen was war
verdrängen was ist
sich einreden was wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1059

fünfzehnter oktober dreiundneunzig

nachtrag bornholm

der krieg in moskau

ob man fünf stunden fernsehübertragung
oder abendliche zusammenfassung
oder nachträgliche zeitungsschilderungen nimmt
die 'wirklichkeit' zum ereignis
als vergleichsmöglichkeit fehlt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1060

einunddreissigster oktober dreiundneunzig

grünes laub

kahler baum
mit grünen blättern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1061

dritter november dreiundneunzig

geburts(tag)

erschöpft
von pränatalen
exzessen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1062

zwölfter november dreiundneunzig

es scheint
als hätte der strukturwandel
welchen die 'wieder/widervereinigung' darstellt
denjenigen
welcher durch die technologische etc entwicklung
erzwungen ist
verhindert

so erhält das wort
'strukturkrise'
einen zusätzlichen sinn

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1063

fünfzehnter november dreiundneunzig

von der seelsorge
zur sterbehilfe

eine entwicklung
zwischen zwei wörtern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1064

achtundzwanzigster zu neunundzwanzigster november dreiundneunzig

schnee
drei zentimeter

mondfinsternis
ohne uns

'europa
den europanern'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1065

fünfter dezember dreiundneunzig

morgens
blauer nebel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1066

sechzehnter dezember dreiundneunzig

die bücher
haben (wieder)
eine heimat

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1067

einundzwanzigster dezember dreiundneunzig

hochwasser

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1068

dreissigster dezember dreiundneunzig

dreiundneunzig

das jahr
des übergangs

zwischen den beiden
festeren 'enden'

der bogen das jahr
eine brücke

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1069

erster januar vierundneunzig

sich hingebende
mondin

das heilige jahr

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1070

siebzehnter januar vierundneunzig




dreifach geflügelte
mondin

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1071

neunzehnter januar vierundneunzig




halbmond
mit hof

gelbgraues auge
des nachtpanthers

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1072

zweiundzwanzigster januar vierundneunzig

mondin

verschleierte
wolkenbraut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1073

sechsundzwanzigster januar vierundneunzig

die mondbrust

halbbrust
des mondes

halbmonde
der brüste

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1074

erster februar vierundneunzig

geschichtsschreibung

eintausendunddreiundfünfzig unserer zeit
etwa drei wochen lang
als stern neben dem mond
danach fast zwei jahre
des nachts venusgroß
eine supernova

islamische und chinesische gelehrte
beschreiben den vorgang übereinstimmend
indianer zeichnen das ereignis
auf höhlenwände (im heutigen neu mexico)
nur die christen europas
haben nichts 'gesehen'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1075

sechzehnter februar vierundneunzig


Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1076

neunzehnter februar vierundneunzig

eismond
mondeis

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1077

einundzwanzigster februar vierundneunzig

unser gehirn
erforscht sich selbst -

sagen die hirnforscher

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1078

vierundzwanzigster februar vierundneunzig

sehnsucht

nach der
polarnacht

(kA)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1079

fünfundzwanzigster februar vierundneunzig

schieferfarbener
mond

mondschiefer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1080

sechsundzwanzigster februar vierundneunzig

buttermond

mit goldring
grün

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1081

erster märz vierundneunzig

kA neue zähne

nach achtzehn monaten
schinderei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1082

zweiter märz vierundneunzig

jeder
dieser scheiß unsäglich täglichen handgriffe
hängt mir zum hals heraus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1083

dritter märz vierundneunzig

mondgirl
im nachtcape

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1084

achtundzwanzigster märz vierundneunzig

wolkenbild

totenschädel
von joyce

mit dem mond
als monokel


vom luxus des todes

natriumpentabarbitol
ein anästhesiemittel
in deutschland trapanal
in fünfzehnfacher überdosis
plus reisetabletten
gegen das erbrechen

exit paretti schweiz

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1085a

neunundzwanzigster märz vierundneunzig

zeichnung

maske
des lunaren eros

rück und vorderseite
nach dem unbewußten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1085b
Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1085c
Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1086a

sechster april bis vierter mai vierundneunzig

la palma la punta morro pito

6.apr

zubringer gamburg frankfurt flug frankfurt la palma das abholen
klappt nicht irrfahrt mit dem taxi verfahrene situation schließlich
fragen und finden wir uns doch 'durch'

7.apr-12.apr

still gesessen und viel rotwein getrunken und den frust der
vorhergehenden theaterarbeit herausgebrüllt

13.apr

los lanos und tazacorte

14.apr

erste notizen erste symptome einer erholung spaziergang auf den berg

15.apr/16.apr

am küstenrand

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1086b

17.apr

im haus

18.apr

alles unter und in dampfenden dicken nebligen regenwolken und fast
sofort ist alles grün

19.apr

zu fuß nach tijaraffe und zurück

20.apr

im haus nachts den obligaten reisekoller nach der hälfte der zeit

21.apr

im haus

22.apr

im haus erst waschküchenwetter dann wundervoll dann nachts enormes
hoch mit wolkentheater

23.apr

im haus traumwetter ganz still gesessen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1086c

24.apr

traumwetter über nacht verschwindet fast das gesamte wasser
aus dem bassin apropos vom wasser verstehen nur die pflanzen etwas
die fische der wind und die steine und natürlich die mondin
spaziergang nach el time

25.apr

wanderspaziergang zum hoya grande

26.apr

im haus irgendetwas stimmt hier mit der 'zeit' nicht

27.apr

im haus nachts und vormittags quer gelesen ein 'buch'
von d.lessing 'shikasta' schlecht bis zum wahnsinn

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1086d

28.apr

wir haben seit dem gestrigen nachmittag saharawind in der nacht
dicker nebel über dem meer so tief daß die palmen wie
'über den wolken' darinstanden schwül-trocken-diesig-heiß-trüb-grau
dann saharalufteinbruch erneut am abend ist ein surren in der luft
wie unter einer elektrischen leitung feinster rötlich brauner staub
surrt in der luft (wogegen eieruhrsand grober kies ist)

29.apr

mit einem bauern nach tijaraffe von dort zum alten hafen in einem
felsenbecken beim bad vertreibt uns der atlantik mit brutalen wogen
nachts 'wie aus dem stand' wieder saharawind einiges fliegt davon

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1086e

30.apr

im haus laupenpieper auf kanarisch

1.mai

im haus eine traurige fröhlichkeit überfällt uns

2.mai

im haus alles feiert erster mai und tag des kreuzes

3.mai

organisatorisches wegen eines schlüssels zu einem schloß
an einer kette über einem privatweg und langsames befassen
mit der abreise

4.mai

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1086f

der eindruck vom terrestrischen dieser landschaft

von der wortlosen stummheit des terrestrischen

ein schweigendes reisen

offenbar ist die zeit hier kein verhältnis
sondern ein zustand

man befindet sich in einem zeitloch

eine insel auf der ich vier wochen lang im grunde meines herzens
angst furcht schrecken bedrängnis unsicherheit empfunden habe
und immer gespannt war gegenüber der auf der lauer liegenden
grässlichkeit

noch eine woche später ist das duschwasser gefärbt
von dem feinen saharastaub aus asche und lavahauch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1087

april vierundneunzig

reisefieber

immer drinnen
niemals draußen
hoffnungen rinnen
laß sie sausen

fundsache 1978


intriganz ist eine form der eitelkeit
die nach dem prinzip der rückversicherung funktioniert

('fäden' ziehen und dann hin und her rennen
um zu sehen ob die knoten auch fest sitzen...)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1088

fünfter mai vierundneunzig

zurück
ins 'grüne'

die mauersegler
der kuckuck

sind vor uns da

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1089

siebenter mai vierundneunzig

das eine kunst die sich als politische versteht
sich nicht von der politik instrumentalisieren lassen darf
ist eine alte erfahrung

wie ist das heute

als politisch und damit als kunst gilt nur
was von der politik auch so instrumentalisiert wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1090

neunter mai vierundneunzig

im vergleich
mit der deutschen sprache
ist das öffentliche deutsch
eine fremdsprache

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1091

zehnter mai vierundneunzig

lieber gott
laß die bäume doch
in den himmel wachsen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1092

zwölfter mai vierundneunzig

im vergleich
mit dem deutschen volk
sind 'die deutschen'
ein dämliches volk

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1093

vierzehnter mai vierundneunzig

ich sehe
den rosen zu

beim wachsen


apropos

den stoff wonach wilhelm reich suchte gibt es wirklich
er heißt ORGAMIN und ist ein universaldünger

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1094

fünfzehnter mai vierundneunzig

die luft riecht
nach rhabarber

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1095

sechzehnter mai vierundneunzig

die rosen wachsen
erst in die höhe
dann in die breite

dem gleicht
meine arbeit

emporwuchs
und
verholzen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1096

achtzehnter mai vierundneunzig

mein herr

ich grüße Sie
aus vollstem arsch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1097

zwanzigster mai vierundneunzig

die vögel
am himmel

wirbeln herum

wie die blätter
im herbst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1098

sechzehnter juni vierundneunzig

wie politiker denken

wenn so viel nichtgutes
über mich berichtet wird
und die leute wählen
mich dennoch so ist dies
ein maß meiner größe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1099

siebzehnter juni vierundneunzig

meinungs- statt gedankenfreiheit
ein deutsches problem

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1100

dreissigster juni vierundneunzig

athmosphärisch
ozonklima

halogenisierte
waschküche

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1101

erster juli vierundneunzig

mond mit rosen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1102

sechzehnter juli vierundneunzig

ab 21 uhr 59
s(hoemaker)-l(evy)-9-fragment a...ff...
auf jupiter

nicht daß die jupitergeschichte ganz zufällig
so öffentlich gemacht wird
(in den letzten fünf jahren gut dosiert)

apropos
was machen wir wenn ein komet oder ein asteroid
den mond zerschlägt oder einen anderen planeten

nochmal apropos
im fensehen kann man nachts stundenlang 'raumfilme' sehen
da wird der fernsehschirm schon vom format her zum fenster
im raumschiff und man sieht hinaus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1103

erster august vierundneunzig

zur verblüffung der beteiligten betroffenen
gibt es die ddr doch noch

sofern man nicht das gleichnamige gebilde
sondern den geist der gegend meint

die alte these
daß die zone
nicht der sozialismus war

sondern wie die leute

es ergibt sich ein effekt
wie anfang der achtziger
für die grünen

es lebe
die vergegenkunft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1104

zweiter august vierundneunzig

in deutschland

wird das glück
zur pflicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1105

fünfter august vierundneunzig

allgemeingebildet
mögen die leute noch sein

allgemeininteressiert
sind sie weitestgehend nicht mehr

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1106

elfter august vierundneunzig

orgasmus

von sehr weit her

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1107

mitte august vierundneunzig

aus politischen gründen anders schreiben
würde ich nicht einmal wenn vorher aus
künstlerischen gründen anders regiert würde

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1108

dreiundzwanzigster august vierundneunzig

gewitter

die bäume verwandeln sich
zu ozeanischen unterwasserlebewesen
in der tiefsee der regennacht


außer kugelblitzen
praktisch alle formen
des blitzes und des blitzens


die landschaft

malerei
im licht von blitzen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1109

achtundzwanzigster august vierundneunzig

nie

nach einem öffentlichen verkehrsmittel laufen

gelernt im osten


nie

auf einen anruf warten

gelernt im westen


vom selbstboykott der ddr


abschrift 0/I fertig
ritt durch den nebel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1110

neunundzwanzigster august bis fünfter september vierundneunzig

kurzurlaub
eichelhof in görschnitz bei weidenberg

schönes dorf hesslach

du alter sächsischer biersäufer
sagt sie zu mir

ich träume von gotischen portalen welche vaginen
und kirchen die weibliche bäuche sind

abends von schönreuth richtung kemnath blick auf den kulmain
die blaugraue burg die linie der berge für einen moment
die quintessenz der landschaft

klein-beyreuth reminiszenz

überzeugender hätte ich es gefunden
wenn wolfgang und/oder wieland wagner
ein attentat auf hitler versucht hätten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1111

fünfter september vierundneunzig

drei dorfweiber fegen den mist
von der neuen dorfstraße

das hat etwas mythisches
nur was

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1112

sechster september vierundneunzig

anno fünftausendsiebenhundertundfünfundfünfzig

     5          7               5      5

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1113

siebenter september vierundneunzig

todsterbensmüde

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1114

vierzehnter september vierundneunzig

orgasmus

der im schwanz
stecken blieb

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1115

einundzwanzigster september vierundneunzig

mondin
in gottes auge



Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1116

zweiundzwanzigster september vierundneunzig

nachtrag
von vorgestern

es gibt wieder
'Komiss-Brot'



das öffentliche fernsehen
setzt die tradition
der groschenromane fort

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1117

dreissigster september vierundneunzig

in den dienstleistungsbereichen
macht sich eine computermentalität breit

es wird nur geleistet
was eingegeben bzw abverlangt wird

eine sinnverkehrung des begriffs
dienen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1118a

sechster bis zehnter oktober vierundneunzig

berlin

berlin ist nicht mehr der punkt auf den sich die erinnerung bezieht

auch dort ist die erinnerung nur zu gast
und wir sind mit unserer erinnerung allein

außer uns wird sich keiner an uns erinnern

laqueus contritus est, et nos liberati sumus.


die stadt selbst

viele junge westdeutsche die im osten studieren

im dom gerade aufgebahrt der enkel des deutschen kaisers

die stadt wirkt sprachfern
der hauptantrieb 'die schnauze' fehlt

im straßenbild keine berlinerin mit chic und pfiff
die meisten menschen wirken vorgealtert
nirgendwo mehr bockwurst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1118b

alles ist kleiner ohne magie der leere weite und verlassenheit
es fehlt dieses gefühl des andauernd unhaltbaren
das den zuständen halt gab

wohin sind die straßen die unendlich langen die so kurz aussahen
wo ist der himmel der so kahl war wie eine glatze

durch berlin zu laufen wie einer der fünfzehn jahre nicht da war
ist für mich nicht neu denn so bin ich achtzehn jahre durch berlin
gelaufen als ich dort war

die stadt ist ent-hohlt ihr fehlen die zwischenräume

deutlich weniger touristen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1119

siebzehnter oktober vierundneunzig

herbst

von gestern
auf heute

und

schminkroter
wolkenbrand

vulvafarbene
abendröte

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1120

neunzehnter oktober vierundneunzig

geflügelter mondkopf

(kA)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1121

einundzwanzigster oktober vierundneunzig

ich sehe den tag kommen
da es virtuelles essen geben wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1122

sechzehnter november vierundneunzig

abends gegen zweiundzwanzig uhr
ein meteor




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1123

einundzwanzigster november vierundneunzig

november herbst

eine mücke

vierzehn rosen
blühten

einer biene
tag

bestaubt


erdabgewandt
sonnen nebel

aller heiligen
seelen

erdwarm

der nacht
allgewand

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1124

zweiundzwanzigster november vierundneunzig

der galante witz
küßt als pointe
sich selbst die hand

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1125

fünfundzwanzigster november vierundneunzig

das erste mal
frage ich mich
was die großmutter
an dem tag in der nacht
getan und gedacht
haben mag

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1126

siebenundzwanzigster november vierundneunzig

das bemerkenswerte
an der dorfkneipe

man kauft zeitüberstehung
zeitüberbrückung

und die zeit
wird in hohlmaßen gerechnet

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1127

dreissigster november bis zwölfter dezember vierundneunzig

nach amrum

30.nov

gamburg bis heide in holstein

1.dez

heide dagebüll amrum

bis 11.dez

täglich am meer



mondmeer bei amrum

die sonne sinkt ohne unterzugehen sagt kA

mir gehen zur zeit sämtliche sechseinhalb
milliarden menschen auf den 'keks'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1128

achtzehnter dezember vierundneunzig

schwimmende
hühner

dieses jahr
war eine reise
um das universum

endlich zurück

die heilige handlung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1129

zwanzigster zwölfter vierundneunzig

jelzin verspricht im kaukasus den humanen krieg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1130

siebenundzwanzigster dezember vierundneunzig

mein schweiß
riecht wie der
einer menstruierenden frau

sagt sie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1131

zehnter januar fünfundneunzig

an die
vollversammlung
der vereinten nationen

im sternbild des steinbocks
sind soeben zwei galaxien
frontal aufeinandergeprallt

was gedenken sie zu tun
um derartige vorkommnisse
in zukunft zu verhindern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1132a

fünfzehnter januar fünfundneunzig

selbst von der lüge
muß man abstrahieren
damit man weiß
was unwahr ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1132b

zum theater


das auf und zu des vorhangs
das enthüllen und verhüllen
war magie des schleiers

das aufrufen und erscheinen lassen
das heraufholen und vorstellen
und das wieder verschwinden lassen
von dadurch scheinbaren und wirklichen figuren
war magie der beschwörung

der wechsel zwischen spiel und nichtspiel
zwischen realität und imagination
das überschreiten von diesseits und jenseits
der weltwechsel des auftretens und abtretens
zwischen leben und tod und wiedergeburt
war magie des erscheinens

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1132c

das befragen und sagen von wahr und falsch
war magie des orakels

dazu der zauber des verkleidens und verstellens
das spiel aus macht und zufall
vorherbestimung verhängnis und schicksal
eros und götterwillkür
war magie des deutens


heute gibt es wenig davon

etwas genormte imagination
meist kompensatorische interpretation oder imitation

das ganze zur not eine parodie des politischen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1133

siebzehnter januar fünfundneunzig

der strick ist gerissen
und wir sind frei

sagte der delinquent
zum henker

und bedankte sich
für den mißerfolg

soviel als schlußwort zur operette

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1134

zwanzigster januar fünfundneunzig

orgasmus

wie ein
hurraschrei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1135

neunundzwanzigster januar fünfundneunzig

das jahr
des offenen auges

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1136

siebenter februar fünfundneunzig

bürokraten

erfinden die arbeit
die sie nicht tun

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1137

neunter februar fünfundneunzig

erde bäume
wald feld
land licht

ein ton stumpf
beizender geäztheit


wohin
sind die guten
alten jahreszeiten


es ist nicht das wetter
das wahnsüchtig macht

sondern die zerstörung
seiner klimatischen voraussetzungen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1138

vierzehnter auf fünfzehnter februar fünfundneunzig

die mondin

im doppelten siebenfachen
regenbogenfarbenen ring

heilige ringe


mit kA
nachts gegen drei
wir waren gerade
mit der beobachtung
des sterns oben darüber beschäftigt


am nächsten tag
berufen sich die nordkoreaner
auf dieselbe erscheinung
um die himmlische herkunft
ihres zukünftigen führers zu beweisen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1139

achtzehnter februar fünfundneunzig

kA träumt
in der nacht vom sechzehnten auf den siebzehnten
folgenden satz

'entfernt euch nicht
 von der dichtung'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1140

zweiundzwanzigster februar fünfundneunzig

das erste licht
des frühlings

läßt die erde
erröten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1141

fünfter märz fünfundneunzig

fliegender regen

(kA)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1142

fünfzehnter märz fünfundneunzig

mond

himmlisch weich
sternlos hell

himmlischer himmelskörper

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1143

sechzehnter märz fünfundneunzig

unter
zwei regenbögen
durch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1144

einundzwanzigster bis dreiundzwanzigster april fünfundneunzig

fahrt nach meißen

die babe das grab
strahlt etwas aus
als hätte sie ruhe

als wäre das nun abgeklungen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1145

ende april fünfundneunzig

dieser frühling

ist zum bild
von sich selbst
erstarrt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten   1146a

erster bis fünfzehnter mai fünfundneunzig

samos

1.mai

ein uhr dreissig nach frankfurt vier uhr fünf flug an samos acht uhr
taxi ireon hotel kohyli sehr gut gegessen von zwölf bis sechzehn uhr
gerösteter lammkopf lammbraten von ganzen tieren aus dem ofen
geschlafen am meer

2.mai

vorm drei stunden tempel der hera nachm vier stunden
durch die oliven

3.mai

regen vorm pythagorion nachm durch die hügel

4.mai

vorm getrödelt nachm zwei stunden zu einer bucht
zwei stunden gebadet zwei stunden zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1146b

5.mai

vorm frühstück am meer nachm spaziert und herumgesessen

6.mai

ganztags gewandert auf den grünen bergen

7.mai

lange gefrühstückt rest des tages spaziert und gebadet

8.mai

vorm pythagorion nachm bis spät abends nach pagondas und zurück

9.mai

taxi nach marathokampos ormos pension avra

10.mai

vorm kampos nachm urlaub

11.mai

vorm nochmal kampos nachm nochmal urlaub

12.mai

baden schwimmen essen trinken sitzen rauchen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1146c

13.mai

lange spaziert an den klippen gebadet abends fisch

14.mai

ganztags herumgedöst kühlheiß alles aufgegessen
alles ausgetrunken

15.mai

nachm mit verspätung zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1146d

weißer weg durch grünen hain

rot schmerzschreiender mohn

tempel der hera in ost west richtung die größenverhältnisse
der säulen ein blick von der heiligen strasse auf den tempel

fühlbar die notwendigkeit der veränderung um nicht im leben
zu versinken wie in einem klosett

schlangenleiber die verdrehten stämme der oliven laokoonartige
gruppen wie masken die verschränkten wurzelstränge

kA träumt von einem theater das wie ein tal und einem text
der wie ein gebirge ist

wer nicht reist weiß nicht wo er ist

über den menschen ist alles gesagt über den tod nichts
der rest wein aus dem faß

abends kühlheißer wind

darunter bewegt sich der meeresgrund

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1147

ende mai fünfundneunzig

die katholische art
christ zu sein

der mensch
ist das tier
das man mit geld
füttern muß

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1148

dritter juni fünfundneunzig

wir warten
auf ein wunder

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1149

siebzehnter juni fünfundneunzig

sich zu verhüllen
das haupt

zeichen des sich abwendens
des entsetzens
der ohnmacht

des sich selbst den blick
die erkenntnis versagen

weil unfassbar

hätte sich vor fünfzig jahren
das deutsche volk verhüllen sollen

aber es gibt ja keine kollektivverhüllung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1150

einundzwanzigster juni fünfundneunzig

kA träumt mich als fisch
der kopf hatte mein gesicht
ein mann hat mich in der hand
mit der anderen gibt oder empfängt er etwas
als ich hungrig bin klappt er einem anderen fisch
die kiemen hoch und hält mich mit dem maul dran
und ich ernähre mich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1151

sechster august fünfundneunzig

monduhr

mit sternpendel




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1152

neunzehnter august fünfundneunzig

man muß damit rechnen
daß man glück hat

(kA)


der weisheit letzter schluß
ist die eigene dummheit

(Th)


soviel zum thema
'sommerloch'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1153

einundzwanzigster august fünfundneunzig

gestern michel gestorben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1154

zweiundzwanzigster august fünfundneunzig

michel begräbnis

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1155

einunddreißigster august fünfundneunzig

o suchet nicht
nach sterbensgründen
die dem leben euch verbünden

nennt mir
einen sterbensgrond
für den es sich zu lebben lonnt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1156

sechster september fünfundneunzig

mond
untergang

wie eine
grablegung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157a

zwanzigster september bis achtzehnter oktober fünfundneunzig

portugal

20.sep

vier uhr nach frankfurt nach elf in faro drei stunden stadt und essen
15 uhr 53 zug über tunes nach luzianes eine stunde gewartet auf ein taxi
dann weiter nach odemira hotel rita abds kurzer gang durch den ort der
kaum einer ist

21.sep

früh neblig kalt halb elf taxe nach zambujera do mar unterkunft ein
appartement groß leer außer betrieb nachmittags an der küste nach norden
spaziert gebadet sonnenuntergang lange geschlafen

22.sep

von elf bis neunzehn uhr an der steilküste nach süden und zurück
zweimal gebadet am strand gelegen abends gekocht die bucht heißt
carvalhal

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157b

23.sep

vormittags auf dem markt anschließend fisch gebraten elf bis siebzehn uhr
in einer bucht nördlich vom ort dann wieder ausgiebig gegessen und zum
sonnenuntergang sonne bis ins meer

24.sep

bis elf geschlafen ab zwölf richtung norden nach vier kilometern in eine
wunderliche kneipe wohin die halbe umgebung essen geht eine caldera wie sie
im buche steht von dreierlei fisch danach hausgemachter pudding mit
eiersoße wohlgenährtester rückzug von achtzehn bis zwanzig uhr dreissig
am strand gesessen

25.sep

vormittags die letzten fische gebraten ab mittag richtung süden bis
carvalhal gebadet geschlafen dann in das dorf brejao über land und zurück

26.sep

vormittags auf dem markt von zwölf bis siebzehn uhr an der zweiten bucht
nördlich von der hauptbucht gebadet in der sonne gesessen sehr warm abends
zeitung gelesen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157c

27.sep

von zwölf bis achtzehn uhr am strand offenbar die von deutschen
campingurlaubern bevorzugte badebucht

28.sep

ganztags in der praja de carvalhal

29.sep

vorm in s.teotonio zwölf bis neunzehn uhr spaziergang nach cabo sardo
zum leuchtturm und zurück

30.sep

ganztags ausgeruht den 'menschlein' zugesehen von klippe zu klippe

1.okt

kA verkorkster magen obstsaft oder 'windjammer' vorm lektüre reiseführer
ab mittags nebel bis abends zeitung gelesen

2.okt

vor und nachmittag leichte kurzspaziergänge mit einem hund das wetter
wird besser

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157d

3.okt

von zehn bis achtzehn uhr dreissig in der bucht von carvalhal
sehr hohe wellen viel dreck nicht gebadet aber große see!

4.okt

vormittags getrödelt nachmittags spaziert am strand im sprühhauch
gesessen abends spaziert

5.okt

spaziergang von zambujera die küste entlang nach süden über carvalhal
hinaus bis azenha do mar und zurück auf dem rückweg die sonne im
regenbogenring mit vier nebensonnen

6.okt

am meer bei carvalhal abends kA hexenschuß oder so ähnlich

7.okt

es ist wieder warm vorm einkaufen ab mittag bis abds an der zweiten
bucht richtung norden starke flut abds hähnchen etc

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157e

8.okt

vorm strand südlich von zambujera nachm an der zweiten bucht nördlich
bis zum sonnenuntergang abds geschlemmt beim konditor war noch licht

9.okt

vorm erledigungen und fahrpläne nachm auf der klippe halber weg nach
carvalhal abds rinderfilet und gemüseeintopf der wind kommt das erste mal
aus dem nordosten es wird wahrscheinlich regnen

10.okt

behangener himmel es regnet manchmal vorm gemurkst im cafe zeitung
gelesen und geschlafen (kA)

11.okt

vorm gebadet mittags ausgiebig gegessen selbstgemachten schiefgegangenen
karamelpudding nachm getrödelt abds gepackt

12.okt

fahrt mit bus taxi bus zug taxi von zambujera über sao teotonio odeceixe
lagos cacela nach manta rota quartier im hinterhof abds die gegend besehen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157f

13.okt

ganztags am strand die sandbank rauf und runter leichter sonnenbrand

14.okt

bis mittags in villa real...über die märkte bis nachmittags gekocht
und geschlemmt einen vinho bairrada tinto colheta de 1985 reserva frei
joao nr 52330 von insgesamt 70268 anschließend spaziergang über land
nach westen nach igreja

15.okt

ganztags am strand oft geschwommen stilles meer

16.okt

die sandbank entlanggewandert muscheln gesucht gebadet geschlafen
und den muschelsuchern zugeschaut an der praja do fabrica

17.okt

von elf bis fünfzehn uhr am strand bis sechzehn uhr pause bis zwanzig
uhr nochmal spaziergang nach igreja und fabrica

18.okt

zurück zwölf uhr mit der taxe zum bahnhof cacela fünf vor eins mit dem
zug nach faro zwei stunden mittag zwei stunden stadt taxe zum flugplatz
zwanzig fünfunddreissig nach frankfurt nachts halb drei gamburg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157g

das appartement die rolläden machen beim herunterlassen ein geräusch
wie sich übergebende hunde

am strand ein sich liebendes paar der mund zwischen den beinen
unerotisch sich säugendes getier

wieder am strand drei grazien die erste ein weiblicher oberkörper
und zwei beinlose säulen die zweite ober und unterteil je eine kugel
die dritte zwei knabenbeine bis zum hals darauf ein kopf

ein mann mit einem genital wie ein gerade coitiert habender erpel
sein oberkörper mit ausschlag bedeckt faulenzt am strand
'erwin laß den zipfel baumeln'

ein mädchen mit einer zwanzig zentimeter langen schnur die zwischen
ihren beinen heraushängt

die entfernungen zwischen den menschen nehmen ab ihre propiortionen
scheinen ent-fernt sein maß ist dem menschen kein ding mehr

das pausenlos andere wetter

der wasserstaub rastert das grau der nebelklippen
mikropointilistisch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157h

nach dem regen sind die felsen und klippen wie 'geschrubbt'
plastischste kontraste

wir umkreisen die sonne auf regenbogener bahn

die sonne das offene auge im regenbogenring mit erst einer dann zwei
schließlich drei und bei spiegelung der zweiten im feuchten sand
der bucht sogar vier nebensonnen




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157i

wir müßten wenigstens einen kleinen planeten für uns haben

der menschheit aus dem weg

die wellen des meeres zu zählen

neue sternbilder entwerfen

schöne spiele im seesand

neben einer möwe die gähnt


zambujera

es träumt
ein hund

von einem hund
der träumt

sein schwanz
leckt ihm das fell

dazu bellt
sacht ein mensch

und wedelt
mit den ohren

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157j

die sandsieber von der praja do fabrica

sie rütteln und schirken mit einem stab an dem ein eiserner
gitterkasten befestigt ist das meer auf in dem sie bis zur hüfte stehen

um den leib haben sie einen gürtel an dem ein sackförmiges netz hängt
welches sie rückwärts über den grund mit sich ziehen und von zeit zu zeit
den fund sondieren

sie stöbern und kratzen den sand etwa einen meter unter der
wasseroberfläche auf und sieben das spülgut in ihr netz

der stab wird hin und her bewegt dadurch der drahtkasten im sand
und gleichzeitig mit dem körper gezogen löst das anströmende wasser
den sand um den kasten und spült den aufgewühlten teil in das netz

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157k

so etwa sieht das aus




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1157l

zwei reisen zwei richtungen

griechenland wo man näher bei sich nicht sein kann
portugal wo der abstand zu sich selbst größer nicht denkbar ist

griechenland wo alles teil von mir wird
berg hain baum meer himmel esel

portugal wo ich scheinbar existenzlos existiere
weit offen leer wie der rahmen um diese leere
die ich anschaue ohne mich darin zu finden

das griechische all das portugiesische nichts
auflösung oder entrückung

seltsam erfahrbar besonders in träumen
dieses nichtselbstexistieren
erinnerung sein arbeit gegenstand

das nutzbar zu machen
wenn man dorthin ginge

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1158

fünfundzwanzigster oktober fünfundneunzig

schlammhimmel
wolkenschlamm

schlammiger himmel
schlammwolkengewölk

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1159

zweiter november fünfundneunzig

schön
noch die schichten des waldes
bescheint die sonne


(kA)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1160

dritter november fünfundneunzig

erst alle heiligen
dann alle seelen

zuletzt ich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1161

neunundzwanzigster februar bis neunter märz sechsundneunzig

berlin

nach siebzehn jahren wieder in der staatsbibliothek
außer mir scheint 'nichts' weg gewesen zu sein

berlin gibt es zur zeit nicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1162a

achtzehnter märz bis vierundzwanzigster märz sechsundneunzig

wien

18.mär

gamburg wien

19.mär

stadt zu fuß

20.mär

monet ausstellung

21.mär

zentralfriedhof und giacometti ausstellung

22.mär

einkäufe

23.mär

kunsthistorisches museum

24.mär

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1162b

monet ausstellung im oberen belvedere

unmöglich solche bilder so nebeneinander
wie auf einem gang unterzubringen

wie fossilien

man besichtigt tote reste

das licht der bilder aus-geleuchtet von museumsstrahlern

auffallend hässliche rahmen


wir kaufen jeden tag eine cd im sonderangebot
gegen den verkehrslärm der nacht

das städtische als problem des publikums
('keiner hat gelernt sich mit sich selber zu langweilen')
jeder als veranstaltung der anderen ergibt diese umtriebige passivität

auf dem zentralfriedhof haben wir das grab der ururs gesucht
es ist nichts zu finden gegen ende des zweiten weltkriegs sind dort
bomben gefallen die trichter sind noch erkennbar
wo das grab gewesen sein müßte läßt sich ahnen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1162c

giacometti ausstellung

alle figuren wirken sehr antik prähistorisch
auch durch das bemalen der bronze

je mehr der mensch vergeht
umso ähnlicher erst wird er diesen figuren

manche köpfe des diego erinnern an ägyptisches
aus der nofretete werkstatt

manche bilder gemalter plastiken
erinnern an porträts von fajum

archaik als zum wesentlichen hinabreichend

nach giacometti der einzelmensch plastisch nicht mehr erfasst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1163

siebenundzwanzigster märz sechsundneunzig

den komet HYAKUTAKE gesehen
mit und ohne feldstecher

wirklich das gefühl
wie wenn einer vorbeikommt

da ist einem einer nah
der viel gesehen hat

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1164

dritter april sechsundneunzig

der vertrag
rußland
weißrußland

das ende
der wende

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1165

fünfter april sechsundneunzig

deutsch ist
einzig und allein
die sprache seiner dichter

was man sonst
zu lesen und zu hören bekommt
ist weder deutsch noch dichtung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1166

dreiundzwanzigster april sechsundneunzig

mauersegler

die vorhut
ist da

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1167

siebenundzwanzigster april sechsundneunzig

die erste nachtigall
der erste kuckuck

ein weißer baum
voll wolkenblauer
mondblüten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1168

siebenter mai sechsundneunzig

wozu schauspieler

es hat sich doch herausgestellt
daß wir keine rolle spielen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1169

siebenter juni sechsundneunzig

die araber

wenn sie einen sohn bekommen
wenn sie einem dichter begegnen
wenn sie ein pferd kaufen

wir winken unseren schatten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170a

neunter juni bis dreißigster juni sechsundneunzig

gozo

9.jun

stuttgart gozo app xlendi bay erster rundgang

10.jun

organisatorisches einkäufe in munxar

11.jun

tagsüber gebadet abds einkäufe munxar

12.jun

gewandert bis mgarr ix-xini über victoria zurück

13.jun

vorm gekocht nachm gebadet

14.jun

zu fuß über land nach st.lucia bis victoria mit dem bus zurück
abds am meer

15.jun

gebadet abends nach fontana zur festa

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170b

16.jun

auf den klippen gesessen aufs meer geschaut dann gebadet
abds festa in fontana

17.jun

ganztags gebadet zwischendurch das erste mal in der kneipe
ein riesiger fisch und eine löffeldicke fischsuppe

18.jun

vorm der tempel bei xaghra nachm gebadet

19.jun

vorm über land bis sannat an den klippen zurück
nachm getrödelt abds lange am meer

20.jun

ganztags am meer an der steilküste gesessen
in der bucht gebadet windig

21.jun

vorm in victoria nachm gebadet abds sommersonnenwende gefeiert
champagner mit feigen und calamaris mit thymian

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170c

22.jun

ausgeruht getrödelt gebadet am meer gesessen

23.jun

nach mgarr und umgebung abds kneipe

24.jun

fungus rock inland sea azure window von saint lawrence
bis victoria zu fuß abds am meer

25.jun

vorm am meer windig gebadet nachm nach munxar abds am meer

26.jun

hinter nadur an die st.blas bay und zurück

27.jun

vorm ausgeruht nachm am meer abds über land gegangen

28./29.jun

am meer

30.jun

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170d

gaumenfreuden des alterns oder vom cunnilingus zum rotwein

ich sehe aus wie ein dackel mit zahnschmerzen sagt sie

sie quetscht tränchen weil sie glaubt ich ärgere mich darüber
daß sie alt wird das ganze im eiscafe vor einem riesenbecher
schokopistaziestracciatella wir sind glücklich vor unglück
wie kinder nach der ersten enttäuschung

an den lieben gott überprüfen sie bitte den geisteszusstand
ihrer menschheit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170e

festa in fontana

gottesdienst


die kirche ist illuminiert wie das hauptzelt auf einem rummelplatz
über und über mit lämpchen die türen weit geöffnet draußen krachen
böllerschüße und feuerwerkskörper oben läuten die glocken die klöppel
werden einzeln mit der hand in schwung gebracht was einen anderen
klang bewirkt als wenn die glocken schwingen würden drinnen spielt im
seitenschiff so daß man es vom hauptraum aus nicht sieht ein kleines
streichorchester dazu singen ein chor und ein tenor die musik wechselt
mit den ansprachen und gebeten der priester und klingt jedesmal anders
erst und meistens wie die opernprobe in einem italienischen provinz-
theater dann wie in der synagoge dann wie ein christlicher gottesdienst
dann wie volkslieder aus dem arabischen befreiungskampf die eucharistie
vollzieht sich wie eine zaubervorstellung im variete wobei alle glauben
es hätte sich etwas getan und jeder weiß nichts ist passiert...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170f

...der predigt des priesters wird am schluß lebhaft applaudiert
geld gesammelt wird wie auf dem jahrmarkt wo man den gauklern eine münze
in den hut wirft alles singt zum schluß eine art arabisches volkslied
vorher hat die unsichtbare kapelle etwas gespielt was vielleicht die
nationalhymne gewesen sein könnte die kinder sind während der ganzen
zeit mit spielen beschäftigt es herrscht ein interessiertes kommen und
gehen nach drinnen und draußen...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170g

feuerwerk


am nächsten abend ist vor der wieder offenen kirche ein podest
aufgebaut eine 'marinierte blaskapelle' also musikanten in seeoffiziers-
artigen uniformen intoniert abwechselnd marschähnliches und getragen-
patriotisches dazu krachen die feuerwerkskörper leuten die handgeläuteten
glocken stehen die menschen dichtgedrängt vor der kirche trinkend und
redend und rufend die musik ist noch das leiseste dann kommt eine zweite
kapelle und die prozession mit der heiligenstatue beide kapellen spielen
'miteinander' der heilige wird beklatscht und bewunken die mädchen tragen
rote gladiolen in den händen der heilige getragen von zwölf männern steht
darüber schwankt auf und ab wird herumgedreht so daß er sich allen zu allen
seiten zuwendet und kehrt dann langsam scheinbar wie ungern rückwärts in
die kirche zurück wieder applaus zweierlei musik vielerlei glockentöne
und ein zehnminütiges abschlußfeuerwerk...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170h

tempel bei xaghra

der eindruck daß dieser tempel nach oben gewölbt und kugelförmig
geschlossen wie ein observatorium oder außerirdische forschungsstation
gewirkt haben könnte

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170i

hier haben die fischer noch eine andere methode
sie befestigen ihre leinen mit den schwimmern und haken samt ködern
an einem kleinen bootartigen gestell welches aufs meer hinaustreibt...




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170j

das schiffchenförmige gerät besteht aus drei bambus oder zuckerrohr oder
schilfstangen die ein rechtwinkliges dreieck ergeben von der grundlinie
geht zum oberen winkel eine zusätzliche verstrebung senkrecht zu diesem
'schwimmkörper' steht ein kleiner mast mit einem rechteckigen segel aus
rotem leinen worin der wind sich fängt und das schiff samt angelleinen
vorantreibt




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1170k

frauen reiferen alters sitzen im schatten eines parkplatzes auf der
erde sie halten lilafarbige zettel in den händen auf denen in
verschiedener anordnung kästchen mit nummern stehen eine ausruferin
läßt aus einem reusenförmigen korbbecher würfel mit zahlen fallen
sie ruft die zahl aus und legt den stein auf ihr brett die anderen
streichen die zahl auf ihren listen aus gewonnen hat eventuell
wessen zahl zum schluß übrigbleibt das ganze hat etwas von einer
religiösen handlung wie gemeinsames beten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1171

fünfter august sechsundneunzig

'friedliche revolution'
zerstörungsritual ost

'wi(e)dervereinigung'
zerstörungsritual west

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1172

vierter september sechsundneunzig

kinderwunsch


hauptsache
die welt
bleibt rund
und der
liebe gott
gesund

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1173a

achtundzwanzigster oktober sechsundneunzig

Ich komme,
und eine unbekannte Erde
liegt unter meinen Füßen.

Ich komme,
und ein neuer Himmel dreht
über mir.

Ich komme
auf diese Erde und sie ist
ein friedlicher Rastplatz
für mich.

O Geist des Planeten!
Bescheiden offenbart Dir der Fremde
sein Herz als Nahrung.

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1173b

Gebet des Gottes der Maori
POURANGAHUA
der von seinem legendären Sitz Hawaiki
("von der Milchstraße")
auf einem magischen Vogel nach
Neuseeland flog.

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1174

einunddreißigster oktober sechsundneunzig

ich muß
etwas für

meine
anonymität
tun


(ich habe
 meine anonymität

 vernachlässigt)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1175

dritter november sechsundneunzig

wir müssen
entrinnen

wie entrinnt man


wie
entrinnen

die
entronnen
sind


die entronnenen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1176

dreizehnter november sechsundneunzig

selbstporträt
mit vierundfünfzig

"der graue
 hund

 in der
 jammerschlucht"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1177

vierundzwanzigster november sechsundneunzig

neunundneunzigkommaneunneunneunprozent
aller menschlichen angelegenheiten
sind geldgerichtet
ebensowenig hat das was man leben nennt
mit dem zu tun was neunneunkommaneunneunprozent
aller leute tun
auf der oberfläche eines planeten
sich um bunte papierscheine raufen
deren wert einzig von der rauflust bestimmt wird...

moneytrophe moneyphilie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1178

november sechsundneunzig

nachdem sich das deutsche volk
als "KOHL" selbst zum kanzler gewählt hat
fehlt nur noch : ein deutscher pabst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1179

dezember sechsundneunzig

sprichwort

geh - aber laß
die füße hier

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1180

zwanzigster januar siebenundneunzig

das wissen
der menschheit

verdoppelt sich
aller fünf jahre

was ist mit
dem gewußten

dem un/nichtwissen

die dummheit
ist ihrer zeit

voraus

aber was heißt
ihrer

die dummheit
hat ja nie

welche

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1181

vierundzwanzigster januar siebenundneunzig

mit geld
kann jedes

rindvieh

ohne
ist der
trick

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1182

zehnter februar siebenundneunzig

denkmist
zwischendurch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1183

vierundzwanzigster märz siebenundneunzig

welch kosmische zeiten

partielle mondfinsternis
und komet

übrigens nimmt man an
daß durch einen kometeneinschlag
("schmutziger schneeball")
wasser und atmosphäre
auf die erde gelangt
und also das leben
entstanden sein könnte

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1184

fünfundzwanzigster märz siebenundneunzig

du siehst aus

wie

ein verurteilter
engel

sagt sie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1185

sechsundzwanzigster märz siebenundneunzig

freizeit

statt
freiheit

ein wahn
der natur
            verlust
und kultur

ersetzen soll

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1186

siebenundzwanzigster märz siebenundneunzig

die vier monate
nov bis feb
waren derart dicht
zusammengepresst
daß nun
ein vakuum entsteht
welches von
nachkommenden dingen
langsam ausgefüllt wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1187

fünfter april siebenundneunzig

ich gehe
nicht mehr
ins theater

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1188

sechster april siebenundneunzig

leckt euch
im arsch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1189

zehnter april siebenundneunzig

die sonde galileo bestätigt aufs neue
eis wasser und vermutlich oder vielleicht auch
leben auf dem jupitermond EUROPA
dazu bilder von einem "gefrorenen ozean"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190a

siebzehnter april bis achtzehnter mai siebenundneunzig

kreta

17.apr

15 uhr 11 nach stuttgart an 16 uhr 59 von dort mit der S2 zum flugplatz
gepäck aufgegeben gegessen in der stadt übernachtung stuttgart

18.apr

4 uhr 30 taxi zum flugplatz 6 uhr 15 nach heraklion ankunft 10 uhr 15
transfer mit der taxe schöne autofahrt zweistündig nach chora sfakion
sehr reichlich gegessen und mit dem hotelboot zum hotel in porto loutro
abends spaziert eingekauft gesessen und lange geschlafen

19.apr

nach westen zur nächsten bucht und durch die gegend nachts sehr windig

20.apr

das erste mal gebadet am hafen dann in der gegend spaziert und im
schatten eines olivenbaumes gesessen geschlafen aufs meer geschaut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190b

21.apr

früh nebel dann klares licht spaziergang nach livadiana durch die schlucht
zurück und am meer viel gegessen in livadiana in der taverne ein enormes
omelett aus frischen kartoffeln und eiern dazu lockerer duftender käse
eigenartig schmeckende grüne oliven abends lammbraten und kleine fische
danach kuchen und kaffee

22.apr

gesessen am meer dann auf dem berg nach anapolis eine griechische familie
wie eine herde über das haus verteilt ruhig wartend bis der gast sein geld
weggeworfen hat

23.apr

sechs stunden am meer gesessen und geschaut über mittag also direkt über
uns ein großes leicht regenbogenfarbenes HALO um die sonne

24.apr

am meer entlang richtung sfakia gelaufen gesessen gebadet

25.apr

ganztags am meer gesessen abends schlechter fisch und wein

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190c

26.apr

richtung ag. roumeli ca den halben weg und zurück

27.apr

am siebenundzwanzigsten wird hier ostern gefeiert verbrennung einer
am galgen hängenden judaspuppe am nachmittag geröstete ziege an der
hoteltafel vormittags baden nach dem essen auf dem hügel gesessen

28.apr

acht stunden marschiert auf den höhen über livadiana abends
halb neun zurück

29.apr

ein ausruh wäschewasch sauf und freßtag nach dem frühstück um halb zwölf
gehen wir einmal um den hafen und sitzen auf der hotelterrasse wir essen
torte und trinken spanischen sekt und deutsches weizenbier dann sitzen wir
bis sechs am meer und essen von sieben bis neun artischockenböden mit
fenchelsoße octopus mit loorbeer und zwiebeln lammbraten mit spinat
hinterher kaffee und torte vorher fischsuppe dazu ein liter roten landwein
zum schluß der unvermeidliche raki ab acht uhr abends gießt es

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190d

30.apr

zum vortag hätte das im tagebuch eines lords gestanden hätte man gesagt
typisch wie die früher gesoffen gefaulenzt und geschlemmt haben heute
lebt jeder pauschaltourist täglich so allein der nachbar am tisch
verbraucht zwei drittel dessen was wir insgesamt zu zweit ausgeben
und zwei andere gäste vertelefonieren wegen nichtigkeiten ein halbes
menü...
es ist sehr neblig nach dem regen der vornacht wir lesen einen krimi und
besaufen uns bei 'paul' an einem sherryfarbenen landwein der wie ein
thymiankräuterextrakt schmeckt vorher haben wir uns ein huhn geteilt
kA hat eine hausgemachte suppe probiert worin endlich wiedermal
artischocken und saubohnen zusammen vorkommen (brot-bohnen heißen
die dinger)

1.mai

einmal um die halbinsel geklettert und dann am meer gesessen und wein
getrunken und käse und yoghurt und salat gegessen am abend auf der
hotelterrasse einen honigfarbenen wein und eine kalte ziegenkeule

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190e

2.mai

von elf bis zwanzig uhr dreißig von loutro zur marmarabucht von dort
die aradenaschlucht bis hoch dann nach anapolis und zurück nach loutro
kA trinkt frisch gemolkene schafsmilch

3.mai

mit dem schiff nach roumeli und zu fuß zurück

4.mai

badetag

5.mai

am meer aber zum schwimmen zu kalter wind

6.mai

ganztags baden in der phönixbucht

7.mai

badetag

8.mai

nochmal marmarabucht aradenaschlucht livadiana und zurück
die wiederholungen und "zweitenmale"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190f

9.mai

loutro livadiana anapolis loutro acht stunden

10.mai

ein ruhetag kA leichte darmverstimmung ich leicht besoffen

11.mai

vergammelt

12.mai

der höhepunkt des touristischen wahnsinns die samariaschlucht
mit dem boot nach sfakia mit dem bus nach omalos dann zu fuß durch
die schlucht und von ag. roumeli mit dem schiff zurück

13.mai/14.mai

ausruh und badetag

15.mai

nochmal über die höhen und baden und wein

16.mai

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190g

ziegen auf den bäumen
ziegen auf den hängen
ziegen am meer

zweige aus dem stamm eines olivenbaumes
sie stehen darauf
ihre wurzeln sehen wie füße aus

der stamm hat seine wurzeln um sich gelegt
wie eine katze ihren schwanz

lila abend

allmählich entstehen einzelheiten
aus dem zusammenhang

ein roter fels
ein weißer abhang

die möwen fliegen waagerecht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190h

noch sehen wir aus wie verwirrte kinder

oder verirrte tiere

doch langsam entzerren sich unsere züge

auch die wiedergeburt kennt ein geburtstrauma

die gastfreundschaft ist der touristischen gastfreundlichkeit gewichen

das bezahlen eine nebensächliche selbstverständlichkeit
ist lebenszweck

schon zeigt man seinen wohlstand

der tourist hat seinen zweck erfüllt

in der schlucht eine merkwürdige stelle eine art höhle von der
höhlendecke am eingang weist ein fingerähnlicher steinzapfen nach unten
vor der felswand entspringt ein feigenbaum und in der höhle steht ein
plastikgleiches gebilde eine skulptur die schlucht liegt voller toter
ziegen
die schafe scheinen alter arabischer herkunft ihre schädel sind dreifach
unterteilt und ähneln gebogenen papageienschnäbeln

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1190i
Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1191

april siebenundneunzig

wenn ich mich
über etwas ärgere

heißt das

ich befasse mich
mit dingen

die mich
nichts angehen

?

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1192

mai siebenundneunzig

die prosaschreibernde literaturindustrie
die buchherstellernde
fabriziert zb völlig unbekümmert
an der tatsache vorbei
daß sich das wissen der 'leute'
aller fünf jahre verdoppelt
und aller zehn jahre 'überholt' ist
ein umstand dem gerade die prosa
formal rechnung tragen muß

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1193

mai siebenundneunzig

das theater heute
und die vorideogrammatische
bilderwelt
postindustrieller piktogramme

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1194

siebzehnter mai siebenundneunzig

haben die leute
um sich auszudrücken
tatsächlich nur noch
ihre denaturierte
körperlichkeit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1195

siebzehnter/achtzehnter mai siebenundneunzig

nachts
zur probe

im neuen haus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1196

vierter juli siebenundneunzig

marssonde gelandet

mit unseren augen
sieht es überall aus

'wie bei uns'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1197a

zehnter juli siebenundneunzig

ein moment der einsicht

das erste mal begreife ich gut und böse sind gleich unschuldig
und wesentliche teile des ganzen

auf einmal sehe ich das zusammen wie in einem spiegel der aus einer
durchsichtigen und einer nichtdurchsichtigen schicht besteht und wer
vor dem spiegel steht der sieht in sich und im spiegel diese beiden
schichten und wie tief er schaut und was hervortritt das sind diese
mechanismen wie sie zb musil im moosbrugger untersucht oder in den
vereinigungen (es gibt ähnliches bei hhj bzw der steht dem thema auf
andere weise sogar näher aber auch bei jcpowys)

nennen wir es also gut und böse das wort schlecht hat hier nichts
zu suchen gut kann genauso schlecht sein wie böse seltsam es gibt als
gegenteil zu schlecht kein wort außer wieder gut was bedeuten muß daß
böse gleich schlecht ist welch eine verdummung mir jedenfalls fällt es
nicht schwer zu bekennen daß bei der annahme ich sei böse mich weitaus
weniger von gott trennt als wenn ich behaupte oder annehme ich sei gut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1197b

scheinbar lehnt es sich mit gott rücken an rücken besser als das man
sich von angesicht zu angesicht gegenübersteht

was ich aber betonen will daß solche erfahrungen ausdruck höchster
moralität und sittlichkeit sind - das muß auf den der diese betrachtungen
anstellt überhaupt nicht zutreffen

das böse ohne das gute gott ohne das ungöttliche gottlose den geist
ohne sein gegenteil denken zu wollen es als das böse außerhalb zu stellen
ist kein akt der kultur sondern gerade der barbarei gott und geist sind
keine gegenteile zu böse aber das ist weder ein freibrief für das gute
oder böse es ist nur eine aufforderung sei gut und sei böse nur
schlecht sei nicht

ob man gut oder böse ist hat man nicht in der hand aber ob man das eine
oder andere schlecht ist oder nicht das liegt bei uns


das liest sich wie eine predigt und ist meine erste schüpfer eloge

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1198

zwanzigster juli siebenundneunzig

o diese scheiß - menschheit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1199

sechster august siebenundneunzig

orgasmus

der zum mund
herauskommt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1200

neunter august siebenundneunzig

der theaterlose autor
das autorenfreie theater

die zeiten gleichen theaterferien

die menschen laufen herum
wie theaterlose autoren

und das leben 'spielt'
wie ein autorenfreies theater

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1201

zehnter august siebenundneunzig

ich trinke
wieder
mit lust

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1202

achtzehnter august siebenundneunzig

vom umgang
mit dem glück

von der ohnmacht
meines glücks

mir gegenüber

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1203

neunzehnter august siebenundneunzig

auf den neuen wohnort
gott war der erste schüpfer

auf den neuen wein
creator spiritus

schüpfer geist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1204

einundzwanzigster august siebenundneunzig

land
arbeit

heu
in den schuhen

gras
unter dem schreibtisch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1205

fünfzehnter september siebenundneunzig

mond

schneeball

innen
leuchtend

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1206

sechzehnter september siebenundneunzig

mondfinsternis

durch das fernrohr sieht man
wie durch das fenster einer raumkapsel
der verfinsterte mond
ist bis ins innerste plastisch
und von fassbarster kugelgestalt
er sieht wie ein fremder planet aus
an dem wir vorüberfliegen
und er an uns -
fühlbar wie sehr wir im raum sind
um uns nicht mehr unsere atmosphäre

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1207

sechsundzwanzigster september siebenundneunzig

welche namen würden wir den sternbildern geben
wie würden die bilder der sterne heute aussehen
würden sich uns die sterne noch zu bildern zusammensetzen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1208

dritter oktober siebenundneunzig

ich lese cervantes
und in spanien ereignet sich
eine exemplarische novelle

ihr titel
die infanta und der handballspieler

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1209

zweiter november siebenundneunzig

"geläutete glocken
 verklingen ewig"

spruch geträumt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1210

dritter november siebenundneunzig

"allerteufel"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1211

vierter november siebenundneunzig

utopia senile

nirgendwo
ist libido

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1212

elfter november siebenundneunzig

einst
      einte
      das schicksal
die dichter

      nun
da keiner
mehr
      lebt

entzweit
      es
      sie
wieder

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1213

zweiundzwanzigster november siebenundneunzig

kA fordert
einen
weltschweigetag

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1214

dreiundzwanzigster november siebenundneunzig




moderne ("amerikanische") lebensformeln

 

körper ist zeit mal geld  K = Z x G

geld ist körper durch zeit  G = K/Z

zeit ist geld durch körper    Z = G/K

der geldkörper

der zeitkörper

die geldzeit

die körperzeit

das zeitgeld

das körpergeld

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1215

sechsundzwanzigster november siebenundneunzig

bürokratie

ersetzt man das wort 'vorschrift'
durch das wort 'computer'
instrumentalisiert man sie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1216

siebenundzwanzigster november siebenundneunzig

was macht "eigentlich"

die familie
des honecker-attentäters

heute

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1217a

achtundzwanzigster november siebenundneunzig

tod und natur


er:

ich bekleide mich
mit dir
meine geliebte


sie:

sieh der sterne
himmlische ferne
o wonne des abstands
denn liebe ist raum

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1217b

er:

du
abtrünnige
wollüstlingin


sie: (das letzte wort habend)

du
mit knöchelchen
beladener

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1218

achter dezember siebenundneunzig

zum typus des intellektuellen

daß er sich utopien aus zweiter hand aneignet
und durch 'dritte' ver-wirklichen läßt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1219

fünfzehnter dezember siebenundneunzig

an allem
spart man

nur nicht
an der dummheit

je mehr man sie verschwendet
um so mehr hat man von ihr


der individualist
von heute

benötigt
um hervorzuragen

die eigenschaft der masse
von gestern


wer darin erfahrung hat
gilt für intelligent

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1220a

zweiundzwanzigster dezember siebenundneunzig

der zusammenbruch in der südostasiatischen wirtschaft deutet rückwirkend
daraufhin daß solche staatspleiten wie in der ddr nicht nur etwas mit dem
gesellschaftlichen system zu tun haben
beim fall der ddr hat man vom internationalen währungsfond nichts gehört
aber daß man nachdem die zahlungsunfähigkeit seit spätestens dreiundachtzig
bekannt war versucht hat den zusammenbruch hinauszuzögern ist bekannt
warum
weil man vermutlich der ansicht war daß eine wiedervereinigung noch teurer
wäre als ein kollaps
die vierzigjährige fixiertheit der ddr auf die bundesrepublik und das
vierzigjährige gerede der bundesrepublik von der wiedervereinigung stehen
in einem direkten verhältnis zu der rat-und kopflosigkeit die alle befiel
als es soweit war

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1220b

dazu eine interessante spätere äußerung eines ehemaligen bundeskanzlers
"...daß ihm immer klar war daß es dazu kommen würde
er aber immer gehofft habe es nicht mehr zu erleben..."
ein gut teil der hilflosigkeit hängt auch damit zusammen daß das erprobte
modell 'verdrängung durch arbeit' nicht funktioniert

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1221

achtundzwanzigster dezember siebenundneunzig

kainer
ist
abel

abel
alle

sind
kainer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1222

neunundzwanzigster dezember siebenundneunzig

orgasmus

"der sein geld
 wert ist"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1223

dreißigster dezember siebenundneunzig

kA schlägt vor

"eine gesellschaft zum schutze der planeten"

zu gründen


und


Th & kA
sind dreissig jahre
"verheiratiget"


wäre letzteres anlaß für ersteres

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1224

einunddreißigster dezember siebenundneunzig

durch
siebzehn
erinnerungsjahre
kalendert

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1225

sechster januar achtundneunzig

erst
der wettlauf zum mond

dann
fünfundzwanzig jahre nichts

und nun
lunar prospector


schon sehr
mehr als auffallend
merkwürdig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1226

zwölfter januar achtundneunzig

alte sprache


ich kenne dich
deinen trostlosen gang

vom herzen zu herzen
vererbter sich schleppend

der kahlen stirn
verdunkelte schlucht

worüber sich nur noch
vergessen wagt

ich sehe wie du träumend
deine seele mit fleisch bewirfst

gläser voll blut gießt
in deinen leblosen namen

und ich weiß du lebst
das ist das schwerste


bln 1966 (wiedergefunden beim sortieren alter briefe)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1227

neunzehnter januar achtundneunzig

rätsel

er rechnet
sich nicht

und schlägt
doch zu buche








hciteR.D

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1228a

zweiundzwanzigster januar achtundneunzig

mensch und natur


er:

jede idealität
ist eine einengung


sie:

deshalb ist deine geschichte
die von der beschränkung
deiner idealität


er:

ich kann nicht
fehlerfrei leben


Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1228b

sie:

und du mußt nicht
vollkommen werden


er:

ich soll die in meinem
fehlverhalten verborgenen
möglichkeiten uneingeschränkt
erproben aber die daraus
sich ergebende entwicklung nicht
aus freien stücken wollen


sie:

du bist zu jung
und zu lebhaft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1228c

er:

für eine gnadenlose kritik
von einem übergeordneten
standpunkt aus - verdammt


sie:

du verdienst jedermanns nachsicht
dennoch veranstalten wir beide
dieses ganze irdische affentheater
nicht nur zu unserem vergnügen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1229

dreiundzwanzigster januar achtundneunzig

es gibt leute
bei denen das loch
größer ist als der arsch

das geht
man muß das maul
nur weit genug aufreißen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1230

dritter februar achtundneunzig

die erstarrte offenheit
zb des westens
gegenüber dem osten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1231a

dritter februar achtundneunzig

der skispringer

von oben starrt er
auf die menge
der er enthoben scheint

die ihn herabschreit
daß er sich opfert
und den sprung wagt

der engelsmensch

der nicht weiß
ob er fliegen
oder stürzen wird

schießt er hinaus
in die bahn
seines flugs

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1231b

dessen ziel nicht die erde ist
der punkt auf dem hang
den ihre krümmung berührt

wo er weich landet
und hart abprallt
an jubel und gedränge

denn er ist unnütz
solange er
unten ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1232

neunzehnter februar achtundneunzig

kA ist
für die verleihung eines
"ordens wider alle vernunft"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1233

dritter märz achtundneunzig

der antisemitismus behauptet eine kollektivschuld der juden
die deutschen weisen im fall der verantwortung für die naziverbrechen
diese mit recht zurück

also (polemischer)
die kollektivschuld der juden ist die kreuzigung
eines einzelnen
die vernichtung von über sechs millionen juden
ist die tat von einigen deutschen


oder

wo steht das mahnmal des verbrannten buches


oder

wo steht das denkmal des vertriebenen schriftstellers


fragen an deutschland
hätte man soetwas früher genannt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1234

dritter märz achtundneunzig

es gibt sie also doch
die anti-schwerkraft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1235

vierter märz achtundneunzig

ein surrpfeifender ton
eines atemverschlagenden sogs
zwanzig grad warmer luft

ein rüttelndes wirbelndes
drehen ziehen und wehen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1236

achter märz achtundneunzig

sieht man die biologische last die der mensch mit sich schleppt
(heutzutage fangen sie an sich gegenseitig die innereien zu klauen
"niere her oder es knallt") und die intelligenten leistungen die er
vollbringt (wir spähen das all aus bis zum ur-knall) dann klafft
zwischen beiden eine lücke (angst und glaube fehlen)
die sonntäglichen gottesdienste weisen auf das ausmaß der verkümmerung
dessen hin was diese lücke einst ausgefüllt hat und die erfolge
einschließlicher medialer veranstaltungen lassen den bedarf ahnen
also: die seelische brücke zwischen bestialität und intellektualität
der spirituelle bogen oder der geistige zusammenhang/halt werden es sein
worauf es ankommt (die gute alte zu artikulierende lücke) und den leisten
weder gottesdienst noch fernsehen auch oder gerade weil eines das niveau
des anderen hat gottesdienste auf fernsehart und fernsehen als gottesdienst
und das theater schließlich als mischung aus fernsehen und gottesdienst -
das theater der angstlosigkeit der arglosigkeit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1237

neunter märz achtundneunzig

arbeitslose
aller länder

beschäftigt euch

oder

seid entlassen
millionen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1238

vierzehnter april achtundneunzig

"wir streicheln mit speichel
 vom schambein zur eichel
 das schöne tier unserer männlichkeit"






fundstück
aus: chor der masturbanten
bln 1965

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1239

achtundzwanzigster april achtundneunzig

ein gefühl
als gingen mir
die eier ab

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1240

vierter mai bis vierzehnter mai achtundneunzig

norderney

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1241

achtzehnter mai achtundneunzig

auch aus
diesem land

bin ich
r a u s

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1242

zweiundzwanzigster mai achtundneunzig


a:     ich habe dreißig jahre im ausland gelebt

b:     wo wenn ich fragen darf

a:     in der ddr

b:     und gefällt es ihnen in deutschland

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1243

siebenundzwanzigster mai achtundneunzig

wann schreibt der o - affe
seinen "bericht"
für eine w - akademie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1244

zehnter juni achtundneunzig

heute hängt
viel wasser
am himmel

kA

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1245

dreißigster juni achtundneunzig

orgasmus

der wie ein glutstab
im glied stecken bleibt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1246

sechster juli achtundneunzig

orgasmus

auf breitester front

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1247

zwanzigster juli achtundneunzig

im anfang war das wort
das war auf einmal fort
dann war es wieder dort
da war der anfang fort
seitdem steht ende dort
das hat das letzte wort

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1248

sechster august achtundneunzig

sächsisch

ist eine
mundunart

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1249

neunter august achtundneunzig

"das licht erlöscht
 und verrät den seher"






traumerinnerung
an meine berliner hinterhofzeit

im dunkeln am fenster stehend
und hinausstarrend

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1250

zehnter august achtundneunzig

immer dieses wunder der leer gewordenen stille die man auf einmal hört
und erfühlt wie sie verlassen ist ohne alles zurückgebliebensein und
plötzlich ist man auch verzaubert auch nur noch da aber dafür von diesem
dasein erfüllt und die dinge nehmen sich platz und zeit und werden so
groß wie sie wirklich sind in uns und man selbst wird klein vor staunen
vor ihrer großen einsamkeit
ein zustand der feindlosigkeit und des friedens wie ihn spielende kinder
oder ein unbeobachtetes tier oder greise erleben
als gäbe es keine vergangenheit mehr und keine zukunft ist alles eine
gegenwart und zwischen den wünschen und ihrer erfüllung vergeht nie mehr
zeit es gibt nur das unendliche jetzt das still steht
auch das auf seine art ewig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1251

einundzwanzigster august achtundneunzig

bauernstroh

wer den fuchs füttert
braucht sich um die gans nicht zu sorgen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1252

neunundzwanzigster august achtundneuzig

orgasmus

als würde mein schwanz
pfötchen geben

kA

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1253

vierter september achtundneunzig

ländliche wahlempfehlung

laß den arsch fahren
und halte dich am furz fest

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1254

siebenter september achtundneunzig

potz gingo und biloba

ich selbstvergesser
meiner wissenslügen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1255

achter september achtundneunzig

kA

das augenkind
mit blumengroßen
kindaugen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1256

dreizehnter september achtundneunzig

der richtige
zusammenhang

des falschen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1257

zweiundzwanzigster september achtundneunzig

kaum bin ich unter menschen
mache ich alles falsch

"wann erscheint ihr roman"
"sobald sie verschwunden sind"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1258

sechsundzwanzigster september achtundneunzig

orgasmus

ein ausläufer
ein auslaufmodell

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1259

dreissigster september achtundneunzig

wie soeben aus dem radio zu erfahren war
wurde die erde ende august
vom gammastrahlenblitz
eines neutronensterns getroffen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1260

erster oktober achtundneunzig

bauernstroh

der bauer fällt
nicht weit
vom bulldogg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1261

zwölfter oktober achtundneunzig

finanziell bin ich unabhängig
ich habe kein geld

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1262

einundzwanzigster oktober achtundneunzig

unbezahlte
geldarbeit

die welt
verwelkt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1263

neunter november achtundneunzig

bauernstroh

es wird nie
soviel gelogen
wie vor einer wahl
und nach einer treibjagd

und an jahrestagen
füge ich hinzu

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1264

fünfundzwanzigster november achtundneunzig

das liebliche taubertal
ist zu einem gewerbegebiet
mit radweg verkommen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1265

dreissigster november achtundneunzig

rücksicht

vorarbeit an sechzehn geschichten gleichzeitig
geldarbeit mit vier komponisten gleichzeitig
warten auf zwei verträge gleichzeitig
geld seit fünfzehn monaten keinen pfennig

jetzt ändere ich das

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1266

dritter dezember achtundneunzig

ein orgasmus

der sich mit
meinem samen

auf und
davon macht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1267

vierter dezember achtundneunzig

eine vorübergehende wehmut
über meine fehlenden
sozialen eigenschaften

zb familienlosigkeit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1268

siebenter dezember achtundneunzig

orgasmus

daß er mir zu berge steht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1269

fünfzehnter dezember achtundneunzig

'...denn die friedliche revolution
 sei ein fall von höherer gewalt!'

ansicht eines friedhofsgärtners

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1270

sechster januar neunundneunzig

orgasmus

der wie ein zug
an mir vorüber fährt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1271

sechsundzwanzigster februar neunundneunzig

fax
in farbe

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1272

nachtrag märz neunundneunzig

die letzten drei monate
waren wie der aufenthalt
in einem anderen reinen element

nachträglich entsprach dem juist

wo es nicht wasser oder sand
sondern nur meer gibt

selbst der himmel der sand
sind ein teil des meeres

langsam sinke ich auf die erde zurück
und beginne zu ergründen wo ich war

verwunderung über alles geschlechtliche
der genuß des fleisches
wie umständlich

armer hund
der keine andere lust
zu kosten weiß

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1273

elfter april neunundneunzig

die ersten aufnahmen
von 'global surveyor'

postkartenformat

daß der mars von einer staubschicht bedeckt ist
läßt den eindruck aufkommen wir befinden uns in
einer 'dreckecke' oder müllkippe (rumpelkammer)
der galaxis

eine dicke staubschicht sagt aber auch
da war lange keiner...'vergessen'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1274

sechster mai neunundneunzig

berlin

erstmals ein halt oder festhalten
in und am zusammenhang

das reicht zurück bis wartburgstraße
schoelerpark helmstetter straße

außerdem

die stadt erholt sich

der reichstag
eine mediale arena

alles nach maßgabe
der politikerdarstellung

durch das/im fernsehen

nicht ein hauch mehr
von demokratie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1275

dreißigster juni neunundneunzig

orgasmus

der sich
überschlägt

sich
überschlagend

mit überschlag

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1276

erster juli neunundneunzig

hinderlist

die hinderer
die einen hindern
daran hindern
einen zu hindern
das hindern
zu verhindern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1277

dritter juli neunundneunzig

keiner hebe
das erste bein

(hunde-regel)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1278

siebenter juli neunundneunzig

Th & kA

das doppelkind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1279

elfter juli neunundneunzig

die liebesparade

ist das vergleichbar
dionysischen oder bacchantischen umzügen

das metaphysische verdrängt vom ökopsychischen
oder wie es heute heißt
dem ideologiefreien WIRgefühl der ICHs

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1280

neunzehnter juli neunundneunzig

konfuzianisch
die gegensätze dynamisch wirken lassen

zb china
verschiedene systeme in der einheit des reiches

einheit der gegensätze


christlich
die kehrseiten der medaille statisch idealisieren

zb europa
koexistenzen isolieren

gegensätzliche oder entgegengesetzte einheiten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1281

vierundzwanzigster juli neunundneunzig

stephan hawking
hält fünfzehn uhr
im auditorium maximum
der universität potsdam
einen vortrag

und wir kriegen
keine eintrittskarten


apropos STRINGS

'strings in the earth and air'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1282

einunddreißigster juli neunundneunzig

'lunar prospector'
(vgl karte 1225/6.jan 98)

ist per gezieltem absturz auf der mondoberfläche aufgeschlagen
um einen nachweis über vorhandenes wasser auf dem mond führen zu können

angeblich würde sich mit teleskopen von der erde aus in der beim
aufschlag entstehenden staubwolke enthaltener wasserdampf feststellen
lassen

mit an bord die asche des kometenforschers
shoemaker der so begraben sein wollte

ist der (erste) mann im mond also doch
ein schuhmacher (meister pfriem)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1283

neunter august neunundneunzig

theater ein aspekt

'die spielerische übertragung ins illusorische...'

dazu ist zu sagen

die künstlich hergestellte 'zweitwelt' unseres bewußtseins
dh die illusion gelingt nicht mehr (schon gar nicht durch das wort)

alle übertragungsversuche heutiger probleme auf die
'damaligen' stücke bleiben im interpretatorischen stecken

und das spielerische wirkt nicht mehr angstbefreiend
weil es nicht selbst antrieb ist (sie spielen nie ihr eigenes spiel)
bestenfalls also therapie vom irrsinn der 'anderen'

die illusion die sich der dichter von der aufführung
seines stückes macht kann er gleich ganz 'vergessen'...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1284

elfter august neunundneunzig

sonnen'finsternis'

den mondschatten aus einer erdumlaufbahn
zu beobachten
ist die zeitgemäße perspektive

aber welchen schatten würfe die sonne
schwarz verfinstert wohin
nach ihrem untergang

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1285

zwanzigster august neunundneunzig

septemberisierter august
oder
herbstliche hundstage

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1286

einunddreißigster august neunundneunzig

dorffest

die gipfel der dummheit
umschleiert
vom dunst der vernunft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1287

zweiundzwanzigster september neunundneunzig

fußnoten
zur menschheit

'aus sicherer
 entfernung'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1288

dreiundzwanzigster september neunundneunzig

plötzlich -

ein morgen
ohne
errektion

("herbst-anfang")

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1289

neunundzwanzigster september neunundneunzig

die 'roten'
sind bei 1968 stehen geblieben

die 'grünen'
sind bei 1979 stehen geblieben

die 'schwarzen'
sind bei 1989 stehen geblieben




volksmund

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290a

sechster bis achtundzwanzigster oktober neunundneunzig

el hierro

6.okt

nachm nach kelsterbach hotel astron

7.okt

6 uhr 35 nach teneriffa nord per bus in ein hotel drei stunden zeit
spaziergang am meer viel kaffee 16 uhr 30 nach el hierro per mietwagen
zur casa oroval fisch aus der büchse und wein zum abend

8.okt

früh eier aus der teflonpfanne ohne fett merkwürdiger geschmack
blick auf la palma maultiere schreien mädchen mit hervorquellenden
augen geldwechsel und einkauf in valverde dann fahrt nach la restinga
gegessen suppe aus muscheln und reis gambas mit knoblauch frittierter
kaiserbarsch (alfonsino) und ananas (pena) dazu wein abends vom haus
über den atlantik geschaut und avocados getrocknete feigen und süßen und
trockenen wein mit kA

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290b

9.okt

tagsüber spaziergang auf der meseta de nisdafe quer über die alten
weideplätze ein stück an der kante entlang (risco de tibataje)
und zurück abds gekocht huhn mit kartoffeln zwiebeln und mojo verde
und hühnerleber und hühnersuppe und käse kuchen wein

10.okt

gemütlich gewandert mit pausen von guarazoca über mirador de la pena
tibataje izique bis zur ermita de la caridad und mirador de jinama
immer an der kante des risco entlang und zurück

11.okt

lange geschlafen lange gefrühstückt mit dem auto von guarazoca nach
sabinosa über san andres und frontera weiter zur playa arenas blancas
ausgeruht ohne zu baden und zurück

12.okt

badetag in pozo des las calcosas abds kaninchenklein in wein und feigen
und pfeffer gekocht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290c

13.okt

lange geschlafen lange getrödelt wieder pozo de las calcosas
thunfischsalat und muscheln a la plancha guter wein am meer geschlafen
von ebbe zu flut

14.okt

mit dem auto bis unterhalb echedo dann zu fuß zum punta norte und
charco manso bewegter atlantik gebadet und aufs meer gesehen abds
papas arrugadas y frittas in eigener herstellung

15.okt

bruma erst auf der abfahrt von valverde nach puerto de la estaca
ist alles wieder hellblau mit dem auto an der küste entlang bis zum
parador nacional gebadet und zurück alles am nachmittag vormittags
waren wir im nebel auf dem hügel über guarazoca spazieren um unsere
regenjacken zu testen

16.okt

nocheinmal mit dem auto bis zum parador nacional dann die küste nach
süden entlang gewandert bis es nicht weiter geht schwarzer sandstrand
lange gebadet noch länger aufs meer und die berge gesehen spät zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290d

17.okt

vorm bis nachm 'besteigung' des malpaso bei bruma total nebel regen
keine sicht abds entlang der küste bei mocanal zum sonnenuntergang

18.okt

die große tour von guarazoca nach las montanetas dann die abkürzung
zum mirador de jinama von dort auf die große straße nach frontera bis
raya la llanja dann nach links hinab hoya de morcillo immer der straße
nach an den roque de julan vorbei und el tomillar bis zur ermita virgen
de los reyes dann zum faro de orchilla von dort zur playa del verodal
gebadet von dort über pozo de la salud sabinosa los llanillos tigaday
la frontera mirador de jinama wieder zurück bis jarales und dann die
abkürzung zur casa oroval
früh vor der großen tour in valverde einkaufen abds thunfisch
anschließend besoffen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290e

19.okt

irgendwo zwischen las calzadillas und la asomada an der straße nach
ermita virgen de los reyes geparkt weiter nach unten gelaufen auf einem
vorsprung unter pinien gesessen man sieht im umkreis von einhundertachtzig
grad weit über el rio über el julan bis zum faro de orchilla abds gibt es
hühnerleber gambas huhn weißen wein

20.okt

den halben tag die kreuz die quer durch den el fayal (fayal-brezal)
spaziert bis hinunter in den el pinar und wieder hinauf

21.okt

wie vortags durch den nebelwald heute durch die lavawüste der los lajiales
dh vorher mit dem auto nach la restinga und zurück

22.okt

ganztags am meer pozo de las calcosas ohne zu baden der brandung
zugeschaut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290f

23.okt

insel und atlantik unter wolken erst pozo de las calcosas den brechern
zugeschaut dann nach tamaduste baden dann zurück nach las calcosas sardinen
gegessen wein getrunken dann wieder ans meer hinunter dann in le moncanal
in die bar

24.okt

früh nach frontera zum sonntagsmarkt mercadillo das märktchen patawein
und mangos gekauft in der bar frischen oktopussalat nach punta grande dann
zurück mittags die eigene suppe gegessen und dann wieder nach las calcosas
ans meer bis abends

25.okt

vorm am mirador de isora gesessen nachm am pozo de las calcosas

26.okt

vorm wege in die stadt und rückflugtelefonate nachm zu fuß zum arbol santo
und über die el chijo genannte gegend zurück dann kreuz und quer hoyo del
barrio betenama und casa del monte

27./28.okt

mittags umbuchung wegen sturm nachm nach teneriffa nord eine nacht
im hotel und zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290g

die maultiere schreien den mädchen quellen die augen hervor

ab einbruch der dunkelheit schmeckt der wein nach lava feigen und ziegen

schau dir ihre autos an ihre häuser und ihre grabsteine sagt kA und du
weißt alles von den deutschen

alt und wach muß ein greis sein wie wachholder

an manchen abenden ist die gesamte kammlinie der insel frei

ganze tage auf dem bidet auch das kann ein vergnügen sein

wechselt das wetter ändert sich das gemüt

schönes bild 'das auslaufende jahrtausend'

das katholische bewährt sich noch immer im heidnischen öffentlicher
umzug der virgen zwischen erese und guarazoca trommeln pauken pfeifen
kastagnetten dazu tänzer und hirten mit stangen reiter und pferde an den
häusern fahnen und palmenzweige immer der gleiche rhythmus die gleichen
triller schritte sprünge

auf den lavapisten kA am steuer meisterlich

nachts im weltall unterwegs herumtreiber zwischen den galaxien

kA verletzt sich am kopf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290h

es gibt noch plätze von ruhiger größe und schönheit die unserer seelenlage
entsprechen aber wehe der freizeitpark ist voll dann kann schon ein
radfahrer alles kaputt machen

oberhalb san andres herzklopfen auslösendes himmelsbild man denkt bei dem
kegel an ein raumschiff

hier hilft gegen den kater nicht mal die übliche bierinfusion

fayal brezal die mischung aus heide englischem garten und stadtpark
nebel und grün

am meer vier bis fünf meter hohe brecher die luft aus salzigem
wasserstaub dröhnt kracht vibriert

der herbst kommt plötzlich den feigenbäumen fallen 'auf einmal'
die blätter ab eine woche später beginnt alles von vorn

bruma daß man die straßenränder nicht erkennt

wetter es regnet uns glatt die aschepisten hinunter

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290i



der blick von san andres

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1290j

fazit der reise


erste erfahrung der weite leere öde des raumes
in dem geist gott glaube vill alle unsere bewußtseinszustände
wie verlorene inseln existieren
und welche schöpferische leistung es ist
solche geist gott glaubenszentren in diesem nichts
des raumlosen raums zu denken
da ist außer gott und uns nichts
und man fragt sich wohin ist das leben

ich war in der äußersten ecke des lebens

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1291

abstecher nach UtOp 1a


erste orientierung alles überzogen von einer dicken ascheschicht

so könnte ich mir die besiedlung eines himmelskörpers vorstellen

das ganze wirkt wie ein kleiner alter planet mit dem lange niemand
etwas anzufangen wußte bis plötzlich jemand auf die idee kam ihn zum
teil mit echtem teils mit synthetischem material in einen erdähnlichen
oasestern umzubauen und mit ein paar kolonisten zu besiedeln
abkömmlingen der erde

manche vulkankegel erinnern an computerentwürfe der landschafts-
oder planetengestalter

nachts dann die befreiende wirkung aus dem 'künstlichen erdähnlichen
ferienparadies' herauszutreten und wieder einen raum um sich zu haben
wo es genug sterne gibt um sich räumlich zu orientieren schade daß es
mit bloßem auge nicht möglich ist die milchstraße räumlich zu erfassen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1292

die landschaft - wie wenn hobbygärtner zuviel auf einmal wollen
die environmentdesigner oder umweltgestalter haben möglichst alles
auf einem zu engen raum verteilt immer ist etwas kleiner oder größer
in der wirkung als tatsächlich und der eindruck wird von wirtschafts-
gebäuden und den stationen gestört

abends werden von den klimamaschinen schwarze wolkenwände
vorübergeschoben

man fragt sich ob der sternenhimmel echt ist

eine art völkerkundlich-virtueller einheimischer ureinwohner des
kleinstplaneten laufen vorüber die frauen mit schwarzen büchern in
der hand die männer in silbergestreiften trainingshosen

dann sinken wir in einen schlaf den man nicht schläft sondern in dem
man sich umsieht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1293

abends verstärkt sich der eindruck des bio-sphärischen
es gibt straffällig geworden oder konstruktiv fehlgeschlagen wirkende halbandroiden welche strafversetzt oder verbannt hier so eine art
hilfsdienste verichten müssen auskünfte etc

ich habe das gefühl meine träume werden manipuliert es laufen
ausschließlich erotische sequenzen über den hirnbildschirm

die unterwasserbehörde gibt jeden tag die zu fangende fischmenge frei

die formen der lava auf den ersten blick willkürlicher gestalt
offenbaren beim zweiten hinsehen ein das unbewußte beeinflußendes
raffinement

so ähnlich wie an den gotischen kathedralen ungeheuerköpfe in die
tiefe spuckten und starrten so sind die lavagestalten nachbildungen
aus der verflossenen mythologie des unendlichen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1294

eiserne recken schachteln sich glattgeharnischt anein-und über-
und nebeneinander

krieger in hehrer wehr und rüstung

danteske köpfe blicken hinab gruppen verdammter halten sich
umschlungen nicht naturformen treffen zufällig das humane sondern
absichtlich umgekehrt bilden humane subformen ein natürliches

abends die allergrößte illusion die sichel eines mondes absurd
bedenkt man in welchem teil des alls wir uns befinden ein bild des
erdmonds wahrhaft theater

mausgraue katzen in der bucht am meer

die originalwiedergabe eines dorfes der ehemaligen ureinwohner
abschreckendes beispiel früher lebensformen

eine frau dick wie sancho pansa die ihren mann dünn wie don quixote
als angel zum fischen benutzt

aber nochmal zum vorigen humanoide formen als naturimitation das ist
die idee dieses biosphären-reservates

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1295

aus irgendeinem grund wurde auf diesem kunstplaneten auf längen-und
breitengrade verzichtet außerdem stimmen die uhrzeiten nicht mit den
tageszeiten überein die willkürliche zeiteinteilung und der umstand
daß in einem nicht berechenbaren zyklus der planet unter NEBEL gesetzt
wird was jede orientierung erneut erschwert - das alles trägt dazu bei
den eindruck von gewohnheiten zu vermeiden man müßte seine arbeit
so ständig rundum erneuern

das ist ein weiteres prinzip hier den eindruck der gleichmäßigkeit
durch die illusion pausenlos-zufälliger erneuerung hervorzurufen

einmal muß an der küste ein teil der planetenanlage durchgebrannt sein
es hat eine art sturmflut gegeben die einen teil der küstenkonstruktion
demoliert hat das erinnert wieder an den technischen standart
des ganzen systems fragwürdig

aber es ähnelt einer freizeitoase wie sie leroi-gourhan vorausgesehen hat

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1296

selbst die möwen fliegen computersimulierte flugprogramme die sich
wiederholen überhaupt ein weiteres prinzip dieses reservates die grenze
zwischen realität und virtualität ist nie feststellbar je näher man ihr
kommt umso mehr weicht sie zurück je mehr man sich von ihr entfernt um
so näher ist sie manchmal scheint die realität nur einen schritt breit
zu sein und der abgrund dafür virtuell dann wieder ist das meer weit und
real und gerade dieser eindruck virtuell erzeugt

die fahrzeuge die einem entgegenkommen bzw deren insassen sind offenbar
gesteuerte programme denn sie zeigen sich unbeeindruckt von schotter
abgrund gefälle sie fahren wie somnambule achterbahn mit unverändertem
tempo ohne eine miene zu verziehen halsbrecherischste pisten entlang
während wir mit übelkeit im magen uns festkrallen und zittern und uns
durch die gegend tasten

womit ich zum zweiten punkt dieses biosphärischen komplexes komme

die wahrscheinlich größte leistung bei konstruktion dieses komplexes
war daß die gesamte anlage auf die psychische beschaffenheit des einzelnen
besuchers sich einstellen läßt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1297

solange man sich klein und müde fühlt hält sich auch die gegend mit
ihren eindrücken zurück in dem maße man freier wird die augen anfangen
zu sehen man weite und größe empfindet paßt sich die landschaft diesen
seelischen gegebenheiten an und erfüllt deren erwartungen

eine biosphäre also die sich der seelenlage ihrer bewohner anpasst bzw
diese seelenlage steuert eine glanzleistung

beeindruckend in diesem zusammenhang die sogenannten lavagärten

raumschiffe welche neue kurgäste bringen oder nur parken oder
vorbeifliegen oder uns überwachen erinnern daran wo wir sind

die abteilung für horizontgestaltung startet ein wolkeneilandprogramm
welches den eindruck eines archipels vermittelt

wie wenn der himmel plötzlich weltraumschwarz wäre und nur noch ganz
fern ein einziger letzter stern würde uns panik ergreifen trauer oder
müßten wir uns entschließen aus dieser sackgasse des universums
aufzubrechen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1298

diese sogenannten vulkane entpuppen sich bei genauerem hinsehen
als die steuer-und auspuffdüsen der antriebsaggregate im inneren des
himmelskörpers mit welchen dieser im all manövrieren konnte

und nun zeigt sich uns eine weitere großartige idee der konstrukteure
dieses künstlichen planeten man hatte ihn so konzipiert daß man ihn
insgesamt mit allem drum und dran also den globus samt atmosphäre
mittels der in ihm gespeicherten energie im universum
herumtransportieren konnte

man stelle sich den planeten erde vor mit einem antrieb gespeist aus
dem flüssigen kern und dessen energie wie er langsam und behutsam
wie eine seifenblase seinen weg aus dem planetensystem wo er geparkt war
hinaus ins all nimmt

wir waren uns nie ganz sicher ob wir während unseres urlaubes irgendwo
geparkt worden waren oder unbekümmert weiter drifteten

unser bewußtseinszustand jedenfalls glich nach vierzehn tagen einer
gelöschten speicheranlage wir waren in einer freien nullage und konnten
uns später neu programmieren lassen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1299

es war wie ein zustand der betriebslosigkeit in den man eigentlich nur
künstlich versetzt wird wenn man eine längere transgalaktische reise
anzutreten hat

nachts wird die virtualität abgestellt und der kahle kunststern
stellt den betrieb ein

die jahreszeitensampler spielen verrückt es regnet uns glatt die
aschepisten herunter

nachts die letzten gedächtnisecken werden vom erinnerungsmief gelüftet

der kunststern weiß mit uns nichts mehr anzufangen und spuckt uns aus
wir müssen auf das mutterraumschiff wechseln es gleicht einer überfüllten
strafkolonie beim transfer (transsex ist auch gut) die umwandlung aus
real/virtuell in wirklichkeit ist gefährdet wir sitzen in einem zum
irrenhaus umgebauten hotel

man fragt uns welches sternbild der staat unserer totfreunde hat
dem wir diese reise zu verdanken haben

bevor es zurück geht will man wissen wo wir waren

wir waren in der äußersten ecke des lebens

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1300

zehnter november neunundneunzig

'westdeutsch'

halten sie diskretionsabstand
im intimbereich

'ostdeutsch'

geh aus der frau raus



es gibt auch
die andere möglichkeit

gott tritt der welt
in den arsch

damit sie sich
schneller dreht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1301

zwölfter november neunundneunzig

es passiert ähnlich wie einundachtzig
nach der reise rom ischia völs
ich tue danach nicht dergleichen
und werde von einem bewußtseinsschwall
regelrecht weggespült

seit der großen tour in der nacht
achtzehnter oktober neunundneunzig
war ich noch nicht wieder zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1302

vierundzwanzigster november neunundneunzig

vom arschtritt
zum mausclick

über die energie
der trägheit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1303

fünfundzwanzigster november neunundneunzig

wie sähe die erde aus
drehte sie sich
um eine west-ost-achse

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1304

erster dezember neunundneunzig

die auskunft des seiltänzers

ich benötige das seil nicht
um darauf zu tanzen

das seil ist erforderlich
den absturz zu vermeiden

getanzt wird von mir
grundsätzlich in der luft

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1305

zweiter dezember neunundneunzig

auffallend

die vernachlässigung
des hochdeutschen

in sprache und schrift
'orale piktographie'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1306a

achtundzwanzigster dezember neunundneunzig

in der dorfkneipe

aaahl ißscht du ?
deees sinnn doohh
aaahhßsfresser

hei joh !
mir fuddere doh
ah nix läbbendes

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1306b

der vierzehnjährige sagt
aufmerksamkeit erregt man nur noch als massenmörder
das ist das problem
zu lernen ohne 'aufmerksamkeit...' zu leben
sechseinhalb milliarden können nicht
ihre gegenseitige aufmerksamkeit
durch massenmorde 'erregen'...

'!unbemerkt leben!'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1307

fünfter januar zweitausend

berlin nullter nullter null null
auf der straße

mehr scheiße
als hunde


babelsberg potsdam
die villen am griebnitzsee
einsteinturm


der versuch etwas relatives
in die architektonische form zu bekommen

das eremitische des turms
etwas nur einem zweck einer bestimmung zu widmen

der nicht singuläre herausgehobene standort

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1308

zwanzigster januar zweitausend

c. o. m. p. u. t. e. r.

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1309

dreiundzwanzigster januar zweitausend

nach drei tagen
'spielen mit der elektronischen eisenbahn'

man sollte staaten
zu einem state-net verknüpfen

und eine software installieren
zur lösung der gängigsten probleme

state operating system
s.o.s. bimbes

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1310

sechster februar zweitausend

im radio
melodramen

vorform
des kintopps

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1311

sechzehnter februar zweitausend

toastergroße
satelliten

das neuste
im orbit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1312

vierundzwanzigster februar zweitausend

volksmund


frühjahrswinde

aus den löchern
zu bloosen

mit lau(t)em
krawall


um das haus
heult der wind

mutter macht
vater 'n kind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1313

fünfundzwanzigster februar zweitausend

'demokratie ist
die diktatur
des gesetzes'

putin

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1314

zwölfter märz zweitausend

mainfränkisches museum
marienburg würzburg

riemenschneider
mutter mit kind

gefunden
rhön grabfeld

so zerstört
daß sie

modern wird
modern - d

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1315

neunzehnter märz zweitausend

im zirkus

keine messerwerfer
keine feuerspeier
keine trapezkünstler
keine seiltänzer
keine kunstschützen
keine akrobaten
keine fliegenden menschen
keine trampolinspringer
keine reiterkunststücke
keine kautschukfrau

'kein nuscht kein gar nuscht'

und vor allem
keine sprechenden clowns

nur pantomisten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1316

achtundzwanzigster märz zweitausend

das leben raubt
dem theater

die illusion


der tod gibt
der illusion

das theater
zurück


(werbezettel zu g.m.b.s.)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1317

elfter april zweitausend

gattungsbegriff
geldarbeit

opera operata

um des bloßen
'verdienstes'

willen

verrichtete
werke

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1318

mai zweitausend

spiekeroog
die insel

wo das meer
den strand

noch für
sich hat

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1319

dreissigster mai zweitausend

man arbeitet
nie genug

nur zuviel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1320

sechster juni zweitausend

heiteres beruferaten
auf dem lande

typische 'handbewegung'
für dichter

'der zerbricht sich
 den kopf'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1321

achtzehnter juni zweitausend

in den gärten
dieses zwischending

aus krematorium
und grabstein

genannt
G R I L L

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1322

siebenundzwanzigster juni zweitausend

zur genom-entschlüsselung
DNA sequenzen und basen codifizierung

das wäre ein weiterer aspekt
der 'kirchenfunktion' der industrie

die alleinige besitzerin einer patentierten
wahrheit bzw wissens zu sein

besonderer vorteil
das experiment dürfte 'un-wiederholbar'
und damit nicht nachprüfbar sein


anderer aspekt

von der kenntnis der zahlen bis zur mathematik
vom alphabet bis zur poesie

aber

vom genom zum G N O M

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1323

neunundzwanzigster juni zweitausend

das auschwitz-modell des imperial war museums
sieht aus wie die berühmte chinesisches terracotta-armee
und zeigt wie die 'darstellung' den gegenstand 'historisiert' -
statt der gegenstand die historie darstellt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1324

zwölfter juli zweitausend

orgasmus

wie eine
giftspritze

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1325

sechzehnter august zweitausend

orgasmus

wie ein lichtfick
ins sommerloch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1326

einundzwanzigster august zweitausend

bericht eines russischen kapitäns

am nordpol gibt es seit zehn jahren
eisfreie stellen offenen wassers
und möwenvögel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1327

dreizehnter september zweitausend

apfelernte
acht zentner

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1328

fünfundzwanzigster september zweitausend

das alte lied

'zum leben
 verurteilt

 zur freiheit
 gezwungen'

zeit urlaub zu machen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329a

achtundzwanzigster september bis vierundzwanzigster oktober zweitausend

toscana

28.sep

mit dem auto bis tösens in tirol beim raggel alois direkt am inn
zwei nächte

29.sep

bei bestem wetter autoausflug nach samnaun und stilfser joch
über st.maria und laatsch zurück

30.sep

bei strömendem regen ab trento weiterfahrt 18 uhr 45 ankunft
poggio di montepescoli eingerichtet wein getrunken

1.okt

regen zu fuß nach paterno alles zu mit dem auto nach pelago
sonntag in einem toscanischen dorf wir stehen herum und trinken caffee
bis es wieder regnet man sieht fast nichts

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329b

2.okt

vormittags einkaufen in pontassieve der supermarkt ist geschlossen
wir werden mit allem versorgt bei luigi dem metzger an der
piazza washington mittags den rest in pelago eingeholt dann gekocht
gegessen getrunken geschlafen gegessen geschaut spaziert filet aus der
pollobrust in vinosanto gedünstet es gibt gewitter und wetterleuchten
langsam wird es klarer die zikaden beginnen wieder zu 'sägen' und
hören sich an wie junge frösche

3.okt

mit dem auto nach vallombrosa zu fuß auf den monte secchietta und
zurück teilweise im nebel ausgiebig getafelt und abendspaziergang

4.okt

nass mit dem auto von montepescoli über paterno pelago diacetto
passo della consuma poppi bibbiena chiusi della verna nach caprese
michelangelo und über la verna chitignano talla loro castellfranco
regello vallombrosa zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329c

5.okt

erstes interessantes licht warm still graublau schattig verschleiert
wir fahren nach pelago zum markt und kaufen ein kilo panicchie an denen
wir uns die finger wund popeln am nachmittag über pelago diacetto auf
die andere seite richtung rúfina bis zu dem flecken FALGANO
dort auf der wiese oberhalb geschlafen den ort besichtigt am abend gibt
es auf dem poggio ein toskanisches abendessen 'cena' aus aperitivo
(oliven salami käse) dann farinata gialla col cavolo nero (eine mais-
mehlsuppe mit schwarzkohlblättern erinnert fern an die caldo verde
oder die blätter von kohlrabi) hauptgang waren spiedini di fegatelli
e lombo (spieße mit stücken von schweinefleisch und leber) dazu
rape saltate (gebackene rüben-scheiben) hinterher cantuccini
e vinsanto (eine art mandelzwieback der in trockenen sherryartigen
dessertwein getaucht wird) zum schluß caffee (inclusi wie alle bevande)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329d

6.okt

über pelago diacetto borselli nach pomino 'pomino frescobaldi'
gekauft weiter in das tal der sieve nach scopeti von dort zu fuß
den monte giovi angegangen kurz vor dem ziel wegen gewitter hagel
wolkenbruch zurück (im pferdestroh den schlimmsten guß abgewartet
und von den dort ansässigen tierchen zerbissen) auf dem rückweg
in pomino den zum wein passenden schinken gekauft abends getafelt
und nachts 'eine pomino-jause oder sause' abgehalten dann mit
äußerstem wohlbehagen weiter geschlafen (ein wohlbehagen welches
den namen 'rausch' verdient kA war regelrecht verschönt vom
angesäußeltsein!)

7.okt

über pontassieve sieci molino del piano velta le croci nach
fiésole rundgang ohne museen und zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329e

8.okt

autofahrt in den/das chianti über incisa san paolo strada greve
der berühmte trödelmarkt der obligate brunello vino nobile die obligate
marcelleria antiqua die obligate wildschweinsalami und der speck
über figline zurück

9.okt

ein ausruhtag bei brauchbarem wetter das eine drittel kloster in
falgano welches wir uns ausgesucht 'hätten' kostet laut auskunft der
stadtverwaltung rufina sechshundertfünfzigtausend mark wir trinken
darauf einen schlechten vernacchio gehen spazieren dafür ist das brot
vom alimentari in paterno sehr gut ('holzofenbrot' ein blödes wort
denn natürlich ist der ofen nicht aus holz...)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329f

10.okt

mit dem zug nach arezzo auto geparkt in st.ellero einfach durch die
stadt ganz gelassen treiben lassen zum glück als erstes san francesco
als 'raum' wundervoll wirklich sehr 'grandios' die piazza grande dann
bei regen im palazzo pretorio einzelausstellung des bildes
LA MADONNA DEI FUSI von leonardo da vinci wir waren allein und konnten
uns viel zeit lassen der berühmte blick von der festung mußte wegen regens
ausfallen auf dem rückweg kaufen wir beim islamischen metzger eine drei-
pfündige 'fiorentina' an der wir die nächsten drei tage essen werden
und da auch die beste fiorentina nicht nur aus filet besteht genehmigen wir
uns genau dieses stück zum brunello als erstes sehr buono

11.okt

mit dem zug nach florenz zuerst in die sakristei der medici-kapelle
leider war die kuppel im inneren durch baugerüste abgedeckt und eine
holzbalkendecke eingezogen um an der kuppel arbeiten zu können dadurch
fehlte die gesamte so großartig ausgedachte 'natürliche beleuchtung'
dann durch die altstadt einmal um den dom ohne hineinzugehen später
piazza della signoria ponte vecchio dazwischen aber galleria dell'academia
mit den sklaven und dem david und an vielen anderen palästen vorbei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329g

12.okt

ein ausruhtag nach einer sturmnacht aus warmem südwest und viel regen
nun ist es riesenwolkig und bläst und bläst und bläst nachmittags ein
spaziergang zu den 'castellini' am abend gibt es vino nuovo con maroni

13.okt

florenz ab 8 uhr 30 in der 'schlange' vor den uffizien kurz vor zehn
beginn der 'besichtigung' nach der gallerie in den uffizien zum
palazzo pitti in die galeria palatina danach zum ausruhen in den giardino
de boboli von dort nach einer halben stunde den domo von außen beschaut
dann kA einkäufe und abends zurück es gibt einen prächtigen octopus (pulpo)
und weißen pomino florenz war ganztags in milchlicht bei wüstenwarmem
scirocco

14.okt

über rufina londa auf die höhe 'valico croce a mori' lange spaziert
in richtung monte falterona und gesessen und geschaut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329h

15.okt

ein totaler regen-sonntag seit zwei wochen ändert sich das wetter
täglich von scirocco bis nebelregen abends bricht bei mir eine neue
erkältung aus...es ist zum...'in der toscana urlaub zu machen'

16.okt

über dicomano zum passo del muraglione dort gewandert über rufina
weinkaufend zurück vorher in san godenzo auf dante einen vecchia
romagna gehoben (mit aspirin) und die kirche besichtigt

17.okt

es regnet die halbe nacht und den halben tag ich lebe von tempo-
taschentüchern und aspirin mittags kommt die sonne wir fahren einkaufen
in den supermarkt von pontassieve die erkältung läßt nach nachmittags
der kleine flecken nippozano und das weingut derer von frescobaldi
abends schwelgen wir in den weinsorten bzw jahrgängen der marchesi und
freuen uns daß die influenza keinen einfluß mehr hat

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329i

18.okt

noch einmal bis passo del muraglione und richtung monte falterona
spaziert und zwei stunden auf die berge geschaut über falgano zurück

19.okt

in nippozano auf dem castell gesessen und die landschaft angesehen
dann wein getrunken und 'schalentiere' gegessen

20.okt

inzwischen scheint die sonne es ist warm die nebel wallen und die
olivenernte beginnt da bleiben wir noch ein paar tage endlich ist es
schön so schön daß sich die katzen auf den rücken legen...

21.okt

diesmal richtig oben auf dem monte giovi auf der rückfahrt markt
in rufina

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1329j

22.okt

der signore und die signora sind auch weggefahren und wir bleiben
ganz allein zurück das appartement nummer 1 'il aliegio' wäre in der
vor und nachsaison ideal für 'geldarbeiten'

23.okt

wunderschöne autorückfahrt die ganze gegend sichtbar besonders
das licht in der emilia romagna und die berge mit den letzten
sonnenstrahlen auf dem ersten schnee im inntal im dunkeln wieder
bis tösens zum raggelalois

24.okt

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1330

caprese das michelangelo-museum hat gamnasial-niveau

la verna das kloster dient der seelischen massenabfertigung

arezzo san francesco wundervoll wie fast alle leeren kirchen
nicht leer von menschen sondern leer von barockem christlich-
haidnischem bay-werk so werden archaische räume daraus räume
nicht plätze solange sie die längsform der balken und das schiffs-
rumpf-dach beibehalten
piazza grande wirklich grandios ein öffentlicher und damit theatralischer
platz man begreift wieder wie wenig öffentlichkeit in den städten noch
vorkommt wo fastfoodinierende mobilophobe routiniert gehetzt einander
ausweichen
la madonna dei fusi da vinci der knabe ist schon halb so groß wie seine
mutter das kreuz ähnelt einem wissenschaftlichen präzisionsinstrument
die landschaft aus eisgipfeln wirkt himmlisch als hätten mutter und sohn
die 'erde' noch vor sich (vielleicht ein zugang zu diesem schwierigen bild
das auf mich wie ein traum wirkt aus glücklichen tagen vor dem leidensweg
oder danach ?) aber...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1331

... und das ist eine abschweifung diese madonnen sind auch immer
mädchen um die vierzehn sie können noch so geheimnisvoll lächeln
man sieht daß sie noch nichts anderes können noch haben sie keine
kinder noch haben sie nicht 'gelebt' und darum auch lächeln sie
ohne zu wissen warum (vgl zb 'die schwangere' von raffael - das ganze
gegenteil) doch zurück zu da vinci schön ist die rechte hand der
madonna und wie sie den knaben 'versuchsweise' losläßt...
noch arezzo eine straße wo links bocaccio und rechts petrarca wohnte
und aretino wirkte wo gab es das sonst (prag?) es ist unvergleichbar

florenz sakristei der medici-kapelle der lichteinfall war nicht
zu bewundern bauarbeiten
die beiden medici schauen auf eine madonna mit kind und zwei heilige
ärzte was die merkwürdige verdrehung der blickenden erklärt die man von
den abbildungen kennt
die gruppe der madonna mit kind und ärzten wirkt blaß wie 'hingestellt'
nicht in das ensemble der sakristei eingefügt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1332

der abend der morgen die nacht der tag beeindruckend ist auch die
ökonomie mit der die liegend verdrehten figuren aus den sehr schmalen
blöcken herausgearbeitet sind
die sakristei das sie nicht ausgemalt ist wirkt heute eher vorteilhaft


florenz galleria dell'academia die aufstellung der michelangelo-
skulpturen ist denkbar schlecht
der jugendliche sklave war eingepackt und nicht zu sehen
der erwachende sklave ohne überraschungen
der bärtige sklave von vorn schaut man in ihn hinein wie in eine felswand
der atlassklave ist der gewaltigste selbst noch stein und die erde die er
trägt auf der rückseite des blocks ist ein 'porträt' eingemeißelt
der heilige mattheus hat mir nicht viel 'gesagt'
der david ist 'eigentlich' zu groß bleibt plastisch hinter manchem
frühwerk zurück seine nachbildung vor dem palazzo vecchio fällt kaum auf
und er steht völlig falsch (wie müßte er stehen wie die freiheitsstatue
oder der christus von rio eher auf der höhe von fiésole)...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1333

...(statt den anblick eines der schönsten männlichen geschlechtsteile
europäischer kunst auf sich wirken zu lassen ziehen die meisten
amerikanischen touristinnen den des hinterteils vor vermutlich wegen
der sitzbank auf der sie sich ausruhen)
irgendwo zwischendrin hängt eine madonna von botticelli


florenz die uffizien der erste stock war geschlossen ebenso die säle
caravaggio rembrandt und andere
botticelli die meisten bilder befanden sich wegen einer ausstellung über
den 'maler der göttlichen komödie' in rom

die römischen kopien antiker originale sind teilweise richtig verdreckt
die christliche ikonographie ist ermüdend


florenz palazzo pitti in der galleria palatina hängen die bilder
was die wände tragen können die besten sieht man am schlechtesten
giardino de boboli die grotta di buontalenti mit den gipsabdrücken oder
abgüssen der michelangelo-figuren ist grausig (wir hatten vorher eine
fotographie gesehen die unsere neugierde geweckt hatte solche figuren
das gewölbe der grotte tragend !)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1334

nach dem regen ist eine sauberkeit in der landschaft wie sie an
restaurierten bildern auffällt und alles in abstufungen dunkelgrauen
grüns wie frischer lauch oder kohlblätter und dazu das weiße grün
der olivenbäume

mittags mit der sonne wird die landschaft groß jede einzelheit
wie gemalt nicht malerisch man schaut auf bilder bis der eindruck
entsteht hier müßte man bleiben bis man die gegend in ihrem
etruskischen grund erfühlt hat dann aber wäre man teil von ihr und
so teil des bildes

am abend sieht jeder hügel aus als begänne hinter ihm das meer

geht kein wind steht die landschaft sobald die windstille vergeht
verfliegt das bild auf den bildern der maler ist immer windstille

wenn aber die sonne scheint und es warm ist die nebel wallen
die oliven geerntet werden und die reben beschnitten ist es schön
und die katzen liegen auf dem rücken

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1335

falgano oberhalb des dorfes befindet sich ein stillgelegter friedhof
obwohl also seine bestimmung seit langem ruht ist sie dennoch deutlich
zu spüren man tritt hinein in das hofinnere wie in eine kleine arena
oder in eine seltsam antike bühneninstallation an die längswände sind
reste von grabtafeln gehängt sein wahres geheimnis aber liegt im
grundriß dieser friedhof wurde auf sich selbst beerdigt er hat die maße
seines grabes die längswände sind die einfriedung das tor die grabplatte
und die kapelle das kreuz so ruht zur letzten ruhe bestattet ein
friedhof in ruhe und frieden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1336
Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1337

in der nähe von chiocchio wir haben uns auf einen hügel gesetzt
und die gegend angesehen regenwolken wie die hügel des pratomagno
kein licht die farben sangiovese-blauschwarzgrau lauchgraugrün
olivensilber

die immer gleichen schatten lichter bäume hügel himmel wolken
täler aussichten passen sich zu immer neuen bildern zusammen wie die
toskanische küche mit ihren immer gleichen zutaten zu immer neuen
gerichten gerüchen und geschmäcken

aber das beste essen wie die beste landschaft taugen nichts wenn
die wärme fehlt es ist zu kalt alle eindrücke bleiben wie das essen
in einem topf unter dem kein feuer ist toscana kalter herd

und chianti ist genau das was landschaft wird wenn tourismus eine
industrie ist nämlich ein industriegebiet

(jede salami aus der antiken metzgerei in greve ist mit E 252
konserviert)

und 'den wein' gibt es nicht die weine sind hergestellt für restaurant-
betreiber in aller welt in diesem sinne ist der chianti ein allerweltswein
und diese exportweine passen nicht mehr zu dieser landschaft...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1338

...genausowenig wie ich der grund: die landschaft versteckt sich
hinter ihrer eigenen 'ansicht' die toscana die es mal gab ist
verschwunden hinter der toscana die man heute sieht und das auf- und
ab-spazieren in oder vor einem abbild ist nichts für mich mir fehlt
der sinn fürs museale bzw das italienische als deutsches ideal

(ich bin keinem menschen begegnet dem anzusehen gewesen wäre wie
sehr er von etwas beeindruckt oder begeistert ist)

man kann sich aber auch kaum anders als touristisch bewegen

könnte ich hier arbeiten es ist keine sprachgegend und es ist eine
weibliche landschaft 'keine des herrn' ma donna toscana wäre das eine
meine arbeit das andere (außerdem die dame toscana ist schwarzhaarig
das ginge mit sicherheit schief)

außer der verkäuferin im lebensmittelladen von pelago habe ich kein
schönes mädchen gesehen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1339

aber ein toskanischer hirtenhund läßt sich zu unserer nähe herab
genehmigt uns ihm einige bissen bester küche vorzulegen (kA legt sie
ihm vors maul) er gestattet sich sie zu verzehren er erhebt sich
nach dem imbiß fordert von kA eine volle kraulehand ein leckt ihr
darauf charmant die hand und begibt sich zurück 'in seinesgleichen'

und langsam gehen einem die augen doch auf wundervoll sind die
abstände der villen und güter und ein gefühl entsteht für den grund
und boden der einen hier trägt

wenn es maler gibt welche statt mit dem pinsel eine leinwand zu
bemalen mit den bloßen händen an den decken und wänden unbekannter
höhlen sich entlangtasten und so ihre artifiziellen spuren hinterlassen
wenn man statt der hände die füße dazu nimmt um vielleicht auf
vorbereiteter erde kunstvolle gebilde einzutreten oder einzutrampeln
oder einzutanzen und wenn man dann statt eines einzelnen künstlers
sich generationen von menschen vorstellt die auf diese und vielfältigste
andere weise über tausende von jahren das kunstwerk einer umgestalteten
erdoberfläche hervorbringen dann hat man das was man eine kulturlandschaft
nennen könnte und in diesem brauchbaren sinn hat es die toscana in sich

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1340

die toscana 'schlaucht'

die toscana macht alt

fazit es war so anstrengend weil hier die aussöhnung zwischen
lunarem und solarem zustand erfolgt ist
(wie ich nun weiß voraussetzung für den übergang zu stellar...)

was auch die frage beantwortet warum man in dieser gegend so
gräßliches zeug träumt (laut schreiend...)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1341

nachtrag

inschrift auf einer marmortafel neben der tür zur cantina

TIBI NON ANTE VERSO
LENE MERUM CADO
JAMDUDUM APUD ME EST

was ich mittels wörterbuch frei übersetze wie folgt

WENDE NICHT FRÜHER DICH AB
ALS BIS DER LEICHTE UNVERMISCHTE WEIN
GANZ HERAUSGEFLOSSEN
DER SCHON SO LANGE IN MIR IST

also offenbar ein 'fass-spruch'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1342

nachtrag oktober zweitausend

wir sollten uns
nicht vorwerfen

daß wir
menschen sind

die geschichte des deutschen theaters ist die geschichte von der
vertreibung des dichters aus dem theater - ...nun 'dichtet' wieder
Hans Wurst und aus den stücken der dichter macht er sein hausmachernes
würstchenbudentheater HANS wurschtet wieder !!!

wir sollten uns
vorwerfen

daß wir
menschen sind

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1343

dreißigster oktober zweitausend

orgasmus

wie versackt
in der fickkiste

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1344

sechster november zweitausend

die birke
ergraut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1345

siebenter november zweitausend

mona lisa

sie lächelt nicht geheimnisvoll
ihr lächeln ist ihres geheimnisses voll

das nichts es enthüllt
lächelt ihr lächeln

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1346

dreizehnter november zweitausend

fama das gerücht
eine nase mit flügeln
gerümpft
aber nicht geputzt

das staatsoberhaupt
das staatsüberhaupt

ochlokrat
'entarteter demokrat'

der staat
bürokratischer absolutist

vom reform-stau
zur reformierten
stag-nation


(nachträge aus dem geldarbeitsmaterial 'staat')

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1347

vierundzwanzigster november zweitausend

jemand
der so mit
der peitsche knallt

daß es geld
spritzt

(aus einem märchen)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1348

sechsundzwanzigster november zweitausend

bestreiche jemandem
den mund mit blut

und die gegenstände
des täglichen gebrauchs

sind plötzlich eßbar

(aus einem märchen)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1349

siebenundzwanzigster november zweitausend

der zeitgeist

hat weder zeit
noch geist

logistik
statt logik

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1350

vierter dezember zweitausend

menschen
die nur von menschenfleisch leben
welches von menschen stammt
die sich rein pflanzlich ernähren

der vegetarische kannibale

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1351a

fünfter dezember zweitausend

draufgehen

wie vom gipfelschlot
der eiswind
den wolkenrauch
wegreißt

donnernd der blendstrahl
des lichts einschlägt
im stahlbau des himmels

über gefrorenem grat
der schneestaub
sprühend zerbläst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1351b

weiß und leicht
ein verziertes
wäschestück

mit dem verliebt
die unschuld spielt
und draufgeht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1352

fünfzehnter dezember zweitausend

eine der einfacheren zumutungen lautet

wir haben sie zwanzig jahre am schreiben gehindert
jetzt würden wir gerne lesen
was sie so schönes über uns geschrieben haben

als hätte ich je die absicht gehabt
die ddr 'abzumalen'...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1353a

sechzehnter dezember zweitausend

stuttgart yves tanguy ausstellung

der mensch dargestellt als erinnerter und die welt dargestellt
als menschenlose verformung der anorganie

giacomettis plastiken und tanguys bilder

für mich läuft bei tanguy alles auf das bild
'vervielfältigung der bögen' von 1954 hinaus
- welches hätte der 'beginn' seiner malerei werden müssen...
(dann hätte in der kon-sequenz etwas entstehen können
wie bei giacometti in der plastik) -

jedenfalls erwächst auch daraus die einsicht:
daß das christliche jahrtausend
mit dem jahrhundert des todes endet
ist nicht ohne logik (aber ohne komik !)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1353b

feuer wasser erde luft
tanguy malt erst bilder 'vom grund des meeres'
nachdem alles wasser verschwunden ist
dann bilder von der 'oberfläche der erde'
nachdem alle luft verschwunden ist
und dann ein bild 'sozialer organisiertheit anorganischer formen'
nachdem feuer (licht) und erde verschwunden sind

menschen gab es schon vorher nicht mehr...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1354

einundzwanzigster dezember zweitausend

die geordnete
revolution

(not zu geldarbeit 'staat')

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1355

fünfter januar zweitausendeins

das erste
schneeglöckchen

der erste
winterling


ein totengerippe
auf einem baum

die sense
unten angelehnt


(aus einem märchen)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1356

zehnter januar zweitausendeins

wenn der mantel der geschichte
vorüberweht

ist der kaiser mit den neuen kleidern
nicht weit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1357

fünfundzwanzigster januar zweitausendeins

wenn quasare mit dem schwarzen loch in ihrer mitte 'ihrem inneren'
ganze galaxien 'auffressen' läßt sich auch ein gebilde denken
dessen schwarzes loch ganze universen verschluckt frage also
kommt unser universum ins loch rast das universum auf ein solches
gebilde zu ('die hölle ist ein schwarzes loch')

oder ist unser universum ein schwarzes loch das sich selber verschlingt

man theoretisiert schon über eine 'energie des nichts' also energie
weder an dunkle noch leuchtende materie gebunden

entweder energie einer dritten materieart
oder sind das hinweise auf die physikalische größe GEIST

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1358

neunundzwanzigster januar zweitausendeins

die planet-arier

spätestens
wenn sie die größe
der dino-sau-(a)rier
erreicht haben

(bzw deren 'humanoide' form)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1359

fünfter februar zweitausendeins




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1360

neunter februar zweitausendeins

orgasmus

mißverständnis
zwischen
oben und unten

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1361

zweiundzwanzigster februar zweitausendeins

sich zu tode
leben

das ganze leben
lang

und dabei so tun

als wäre man ein mensch

das ganze leben lang

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1362

sechsundzwanzigster februar zweitausendeins

der menschheit
den stuhl

vor die erde
setzen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1363

fünfter märz zweitausendeins

die
vorsorgliche
tötung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1364

elfter märz zweitausendeins

orgasmus

das
glanslicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1365

zwölfter märz zweitausendeins

lesbisch

wär ich
gern

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1366

dreizehnter märz zweitausendeins

die ersten schritte

e       "geh ieber wiese
        griene wie diese
        tret auf ding
        e schmätterling..."

a       "...wos bist bleede
        gehst ieber wiese
        statt zu fliegen mit fiesse
        grosse wie diese"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1367

neunzehnter märz zweitausendeins

mannheim wilhelm lehmbruck ausstellung

'kopf eines denkers'   1918
staatliche museen zu berlin nationalgalerie

die hand fragment wie ein mal ein orden ein zeichen
auf der brust

die schultern wie reste abgebrochener flügel

die stirn in der krankheit des erkennens
sich bereits auflösend (an der erkenntnis!)

der schädel wie verformt vom 'denken'

mund auge gesicht der depression verfallen

ein geistig kranker engel am geist erkrankt

(der geist hat ihn geistig krank gemacht!)

ein geistiger engel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1368

dreissigster märz zweitausendeins

passend zur dunklen materie
wird jetzt auch eine dunkle energie diskutiert

gilt unter diesen obskuren umständen
auch die berühmte formel

muß man dann von finsternisgeschwindigkeit sprechen
oder gar von dunkellicht oder negativem licht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1369

einunddreissigster märz zweitausendeins

sich durchdringende
universen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1370

rest april zweitausendeins

orgasmus

wie ein
flammenwurf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1371

neunundzwanzigster april bis fünfzehnter mai zweitausendeins

spiekeroog

orgasmus

wie stochern
im nebel

watte(n)ficker


ein tag

wo zwischen
meer und himmel

für den menschen
kein platz ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1372

mai zweitausendeins

nachts

sterne und
glühwürmchen

die sterne

glühwürmchen
des universums

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1373

achter juni zweitausendeins

schenkung

an eine
stiftung

'nachlaß
 zu lebzeiten'

oder

vorschuß

auf die
nachwelt


auch
in der
eigenen nachwelt

lebt
man nur
auf pump

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1374

zehnter juni zweitausendeins

orgasmus

von dem ich nie
erfahren werde

ob er selber weiß
ob er einer war

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1375

einundzwanzigster juni zweitausendeins

orgasmus

einer wie
der meine

keiner wie
der deine

beide nie
die unseren

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1376

vierter juli bis achter juli zweitausendeins

berlin

weniger hunde
weniger alte
weniger sprache     nichts steht mehr dran
                    immer muß man fragen
ich
alter
sprachhund

ausstellung sammlung giustiniani

drei caravaggio

amor als sieger
junger amor
der ungläubige 'th.'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1377

erster august zweitausendeins

sandra
du nervst
geh sterben

auf eine
hausmauer
gesprüht

das wirkt
antik
pompejanisch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1378a

fünfter september bis dritter oktober zweitausendeins

südlicher dodekanos

5.sep

lauda stuttgart kos hotel 'kostas palace' am hafen gegenüber das e-werk
wenn man den schlüssel aus dem schloss zieht gehen licht kühlschrank und
klimaanlage aus...der ventilator die luftsäge

6.sep

vorm schiffahrtsbüros wg weiterfahrt nachm gebadet

7.sep

asklepeion

8.sep

kA gebtag dreizehn uhr f/b 'dimitroula' von kos über nissiros und
tilos nach symy in der oberstadt die untere etage eines hauses in einer
seitengasse abds kA "60" gefeiert in der kneipe

9.sep

ausgeruht gebadet kleiner stadtbummel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1378b

10.sep

größerer stadtbummel einkäufe baden

11.sep

zu fuß nach pedi und weiter zur badebucht st.nicholas schwimmen
zurück abds fernsehen ny wtc

12.sep

zu fuß über die hügel und oberhalb von nimborió unter einem
baum gesessen abds am hafen von nimborió gebadet

13.sep

ganztags in nimborió schwimmen sitzen schauen

14.sep

schwimmen in nimborió und sitzen im schatten einer kirche

15.sep

schwimmen in nimborió und oben auf dem berg an der kapelle

16.sep

die 'stadt' angesehen und zehn minuten einer gitarrentriodarbietung
bei-gewohnt und einer griechischen hochzeit zugeschaut

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1378c

17.sep

wanderung zur bucht 'sarpes' dort geschwommen und
nach drei stunden zurück

18.sep

feier-tag mit garnelen und weißem wein von rhodos

19.sep

ganztags in der bucht santa marina zu fuß hin und zurück
abds octopus und wein

20.sep

wanderung zur bucht von 'toli' und baden und zurück

21.sep

wanderung zur bucht von 'toli' aber nördlicher als am vortag
wo ein leeres haus steht und wir wurst gebraten haben
ofen selbst gebaut

22.sep

ausgeruht und gepackt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1378d

23.sep

zehn uhr dreißig mit dem schiff nach tilos unterkunft
appartement 'sea breeze' lamm gegessen wein getrunken
geschlafen geschwommen getrödelt

24.sep

früh geschwommen und eingekauft danach wanderung zur tholim-bucht
bis abds gebadet und geschwommen dann zurück ziegenbraten mit zitronen
am meer gesessen

25.sep

ganztags badend schlendernd und biertrinkend einmal um die bucht

26.sep

ganztags auf den hügeln an einer ruine 'castro' und die wanderwege
zu zwei weiteren buchten erkundet früh und abends geschwommen am strand
bier und gesalzenen thunfisch

27.sep

mit dem bus nach megálo chorió antonius-bucht und
eristos-strand es ist windig

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1378e

28.sep

auf den höhen oberhalb der tholos-und sergius-bucht gewandert
geschaut eine sandbucht zu der kein weg führt

29.sep

'herumgehangen' am hafen am strand auf dem balkon

30.sep

zwölf uhr dreißig ferryboat 'roumilda' nach kos die pension thalia
in mastichari war 'full' aber gegenüber dem minimarket 'thomas'
ist etwas frei

1.okt

den ganzen tag an einem strand und einem meer welche beide eine
mischung aus schwarzem meer und ost-und nordsee und sylt sind wäre
kalymnos nicht gegenüber wüßte man nichts von griechenland abends
picknick am strand

2.okt

am hafen gesessen und zugeschaut ein anker zerrt an seiner kette

3.okt

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1379

vergleicht man das menschliche bewußtsein einer optischen linse
so scheint griechenland der brennpunkt der linse welche den menschen
zum mittelpunkt hat

mir aber geht es umgekehrt mein bewußtsein scheint einem prisma
ähnlich welches ins universum hinaus sein spektrum ausbreitet

das griechische als das humane bezieht alles das ganze universum
auf den menschen

ich beziehe alles menschliche auf das universum aber universalisierung
des subjektes und humanisierung des objektes sind kein gegensatz
ebensowenig wie die humanisierung des universalen bzw die
universalisierung des humanen

im grunde ist das am menschen nennenswerte das was er selbst seine
seele nennt und die großleistung dieser seiner seele seine größte
seelische tat ist es etwas zu denken zu empfinden sich vorzustellen
was der mensch selbst gott nennt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1380

ein bild   boot mit baum   der bootbaum   die baumarche 




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1381

die bucht von livádia eine ruhende echse




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1382

in meg. chorió katzen ohne augen

es ist windig in einer sandbucht zu der kein weg führt


fazit

die gewerbliche unzucht des geschlechtstriebes heißt prostitution

die gewerbliche unzucht des nahrungstriebes heißt gastronomie

die gewerbliche unzucht des wandertriebes heißt tourismus

die gewerbliche unzucht aller drei heißt fremdenverkehr


der gelbe staub der sonne sagt kA

symy die insel hinter der sonne sagt kA

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1383

einundzwanzigster november zweitausendeins

führt der weg
von der feigheit
zur tapferkeit
über die brücke
der angst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1384

dreiundzwanzigster november zweitausendeins

die tücke
des objekts

ist das
subjekt

das subjekt

ist objektiv
tückisch

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1385

achtundzwanzigster november zweitausendeins

man sagt "...die letzte ehre erweisen"
gilt das dem gelebt habenden
wieviele ehrungen erfuhr er vorher
oder gilt das dem nun toten
wieviele ehrungen oder ehrerweisungen
mögen ihm noch bevorstehen

(...beehren sie mich bald wieder)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1386

neunundzwanzigster november zweitausendeins

fama
morgana

der ruhm

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1387a

achtzehnter dezember zweitausendeins

fundsachen aus den jahren
einundachtzig und zweiundachtzig

selbst wenn man erkannt hat daß man dazu ausersehen ist
eine mülltonnenexistenz zu führen kann man es nicht unterlassen
irgendwann darauf zu bestehen daß es nur diese und keine andere
mülltonne zu sein hat sie gibt einem das was man halt nennt im
leben dieser halt gibt einem sicherheit und diese sicherheit
gibt einem freiheit und plötzlich ist die mülltonne ein palast
und unumstößlich und der abfall der welt hat darin nichts mehr
zu suchen...

wir heben nicht mehr die hände zum himmel
wir recken ihm unsere fernsehantennen entgegen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1387b

e:   wir machen einen neuen menschen

a:   wie macht man das

e:   man errichtet die diktatur des proletariats

a:   so einfach steht er nicht mein prolet

e:   wir brauchen eine erregende revolution

a:   einen geilen klassenkampf

e:   ich werde deinem genossen prolet schon auf die barrikade helfen



ich schaffe meine fantasie auf hohe himmelgelbe wagen
statt eine einzige tat zu markte zu tragen
und nur am rad schaukelt und baumelt schnickschnack



es kommt wieder die zeit
wo die finger unter den nägeln hervorwachsen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1387c

um uns wie tiere zu behandeln
muß man in menschen uns verwandeln
und zu menschlichem benehmen
sich das tierische bequemen

"untertänigst
 scardanelli"



man müßte von dieser welt wie sie ist einen gipsabdruck nehmen
und ihn in einem museum ausstellen außerhalb dieser welt
denn diese welt ist gottes einziges ei



so einfach ist das nicht ideologie als religion für das diesseits
und religion als ideologie für das jenseits
wir brauchen irreversible erkenntnisse

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1387d

hast du hunger
dann friß
gedünstete reißzwecken
mit löschpapier
du schreiber



sie blickte als ob ihre wimpern brenneten

der himmel muß mehr sein als die letzte decke
nach der man schielt um einen haken dran zu finden
an dem es sich henken läßt...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1388

dritter januar zweitausendzwei

das 'neue' geld
als ware dem zwang
zur erneuerung
unterworfen

geld ist anweisung
auf eine handlung

eurologie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1389

sechster januar zweitausendzwei

mein schwanz ist
ein krummer hund

doch

ob grad
oder krumm

er kummt nicht
drumrum

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1390

dreißigster januar zweitausendzwei

"ach würde die dummheit
 doch endlich unbezahlbar..."

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1391

fünfter februar zweitausendzwei

sagen die einen
bis er mir nicht bewiesen hat
daß er nichts taugt
taugt er mir was

sagen die anderen
bis er mir nicht bewiesen hat
das er was taugt
taugt er mir nichts

sind die ersteren
zu überzeugen

sind die letzteren
es nicht

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1392

sechster februar zweitausendzwei

volksmund

lieber genial
und gar nicht
als doof und
ewig leben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1393

fünfzehnter februar zweitausendzwei

"original-ton ddr"

zum fragment vom wort

'...da haben Sie aber einige vorschläge
zur ausgestaltung des stadtzentrums gemacht...'

zum fragment von der weltanschaung

'...da hast du ja wieder einen brocken in die welt gesetzt...'


und das ist ein fortschritt gegenüber dem einstigen gefrage
'schreibst du denn immer noch' oder 'machen Sie auch was mit sprache'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1394

achtzehnter februar zweitausendzwei

das laster
des einzelnen

als tugend
des ganzen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1395

zwanzigster februar zweitausendzwei

heutzutage
schmeißen
die säue

die perlen
weit von
sich weg

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1396

zweiundzwanzigster februar zweitausendzwei

im anschluß an die notiz
daß alles gewerbliche unzüchtig ist

verkauf ist verrat
ich habe nichts zu verkaufen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1397

dreiundzwanzigster februar zweitausendzwei

wenn man dem sprichwort trauen darf
ist eistanz eine sportart für esel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1398

sechsundzwanzigster februar zweitausendzwei


Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1399a

sechster märz zweitausendzwei

im radio wird ein philosophischer vortrag aller zehn minuten
durch musik unterbrochen
mit dem selben recht ließe sich verlangen
zwischen den sätzen eines streichquartetts die zeitung vorzulesen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1399b

unterschied zwischen in der ddr unterdrückter literatur
und heute noch unterdrückter ddr-literatur wobei ddr-literatur
meint in der ddr entstandene deutsche literatur zum thema ddr

zunächst ist der begriff ddr-literatur ein problematischer
erfunden von den KUFUs zur abgrenzung

es hieß es gab bis fünfundvierzig eine deutsche literatur
ab neunundvierzig eine brd - und eine ddr-literatur

wenn das gestimmt hätte hätten wir heute nur noch eine brd-literatur

dann gab es die literatur aller 'herren länder'
die in der ddr aus den verschiedensten gründen 'unterdrückt' wurde
wie man etwas unangenehmes unterdrückt oder eine bemerkung
die überflüssig erscheint manchmal hieß der grund auch fehlendes geld
für die lizenzen die in devisen bezahlt werden mußten

dann gab es die ddr-literatur dem sinne nach daß deutsche literaten
sich mit dem thema ddr in einer weise befassten die den KUFUs nicht paßte

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1399c

und schließlich gab es die ddr-literatur die so hieß
weil man glaubte sie repräsentiere die ddr in gewünschter weise
die nicht unterdrückt wurde aber auch nicht so qualitätshaltig war
daß sie sich 'von selbst' durchgesetzt hätte im gegenteil
es war eine zum teil sehr mit gewalt geförderte literatur
und meist hatte sie mit dem thema ddr nichts am hut

und ganz am ende gab es ddr-literaten die von der ddr
regelrecht unterdrückt wurden

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1400

elfter märz zweitausendzwei

zum lebenskrampf
mancher autoren
'dieser zeit'

gehört der überlebenskampf
ihrer werke
'jeder zeit'

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1401

achter april zweitausendzwei

das dialektische an der dummheit
sie ist es von beiden seiten
und dieser antagonismus ist kein widerspruch
die dummheit ist wie man berlinisch sagt
nur auf jeder backe anders doof
(und die sachsen sind die dialektiker der dummheit)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1402

achtzehnter april zweitausendzwei

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M E M O R YTM

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1403

vierundzwanzigster april bis neunter mai zweitausendzwei

spiekeroog

urlaubslektüre

h.f.peters lou das leben der lou andreas-salomé

alles bewegt sich zwischen berlin wien zürich rom paris
und st.petersburg in einer heute unvorstellbar gewordenen
nicht-angelsächsischen kultur

als biographie muß man so etwas nicht ernst nehmen
die einzig interessante andere gestalt ist der orientalist andreas
von dem man weniger als nichts erfährt


gerhart hauptmann wanda



bei der maibaumaufrichtungsfeier spielt die blaskapelle
'der mai ist gekommen' als trauermarsch - so ein wetter...

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1404

vierundzwanzigster mai zweitausendzwei

flagge auf dem grab

geist des blauen himmels
sonne die welt erfüllend
des wortes sprechendes gewölbe

wie die feder eines vogels
das feuer tragend
mitten vor stern und gott

des mondes fuß
herabsteigend alter und zeit
überschreitend namen gedenken

verschlungenes gehörn
säulen der erde

(sätze aus alten alphabeten)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1405

achtundzwanzigster mai zweitausendzwei

der laie meistert im nebenberuf
woran der fachmann hauptberuflich scheitert

gründe

die fachleute werden immer jünger
und immer mehr müssen sich das wissen
(eines laien?!) teilen
laien dagegen werden rar
sie sterben aus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1406

dreißigster mai zweitausendzwei

pole
ozeanisch
vereist

wasser
mars(ch) !

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1407

erster juni zweitausendzwei

kinderweisheit

der stellvertreter gottes
auf erden
ist der teufel

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1408

neunter juni zweitausendzwei

die theater haben die alten stücke
nur verschieden inszeniert
es kommt aber darauf an
neue stücke zu schreiben

(feuermaul-these)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1409

neunzehnter juni zweitausendzwei

wandertag

in einem bächlein trübe
bauchoben ohne eil
treibt schwanzlos die forelle
das heißt ihr vordrer teil

sie riecht wohl aus dem maule
sie stinkt gar aus dem kiem
und treibet still zufrieden
und faulet für sich hin

schriftsteller
davon leben sie

davon nicht
damit

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1410

vierundzwanzigster juni zweitausendzwei

es lebe
der schrei -

benden klasse schrei -

wort frei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1411

achter juli zweitausendzwei

pen cartridge cleaning helicopter
tintenstrahldruckkopfreinigungswirbelflügler
aus der reihe technische insekten (insec.bionic.)
stark vergrößert




Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1412

neunundzwanzigster juli zweitausendzwei

alt beginnt man zu werden
wenn man anfängt
sich darüber zu wundern
daß man noch lebt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1413

dreizehnter august zweitausendzwei

komplimente

zutreffende
mißverständnisse

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1414

achtzehnter august zweitausendzwei

die herbstzeitlose -
blüht !

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1415

neunzehnter august zweitausendzwei

meines gliedes
einziger mißbrauchschutz

ist seine wiedereinsetzung
in den vorherigen stand

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1416

sechsundzwanzigster august zweitausendzwei

vergiftetes
wetter

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1417

achtundzwanzigster august zweitausendzwei

der orgasmus
hinter dem orgasmus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1418

dritter september zweitausendzwei

zum beispiel
fußball

manndecker
bei hertha

auch ein
beruf

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1419

achter september zweitausendzwei

kAs september

höchstsommerlichstes
sekt-licht !

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1420

fünfzehnter september bis sechster oktober zweitausendzwei

spiekeroog

speigrünes meer
grauhaarige luft
blauäugiger himmel

watt
wüste
geflutet

ebbe und flut
ein lebensrhythmus
wie beten und arbeiten
was aber bedeuten gezeit und gebet
noch dem menschen
der aus seiner natur
herausgetreten ist

der mensch
spottet

jeder
übertreibung

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1421

zehnter oktober zweitausendzwei

ab hier beginnt
meine postmortale existenz

mit der frage

war diese welt es wert
auf ihr gewesen zu sein

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1422

siebzehnter oktober zweitausendzwei

der geheimdienst informiert
die regierung
die regierung informiert
das volk

glaubt ernstlich einer
diesen mist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1423

achtzehnter november zweitausendzwei

sport
nachricht

eisbären
jagen
haie

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1424

achtundzwanzigster november zweitausendzwei

guter rat
in puncto
s.t.a.a.t.

ein portiönchen
revolutiönchen

(wh von 1966)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1425

achter januar zweitausenddrei

das land
der deutschen

mit der seele
meidend

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1426

siebenundzwanzigster januar zweitausenddrei

dorfkneipe

"die welt steht
 am vorabend

 eines abgrundes"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1427

dreizehnter februar zweitausenddrei

die neueste
altersangabe

messung
der hintergrundstrahlung
des universums

dreizehn komma sieben
milliarden jahre

ein universum mit strahlendem hintergrund

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1428a

siebenundzwanzigster märz bis vierter april zweitausenddrei

kurzurlaub gutenstein

27.mär

schüpf gutenstein über donaueschingen (mittags quelle schloß)
abds spaziergang
kA träumt von körpern und köpfen

28.mär

gutenstein hausen i.T. und zurück
der letzte satz zum thema LEDA
"der schwan steht kopf..."

29.mär

gutenstein imzigkofen unterschmeien und zurück
nachts regen

30.mär

ausgeruht und vorgelesen 'der mann der aus der kälte kam'
(mindestens das dritte mal)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1428b

31.mär

gutenstein hausen per auto hausen beuron hausen zu fuß

1.apr

gutenstein wildenstein und zurück
huc von werbinwac 1220-1284 auf burg werenwag

2.apr

vorm sigmaringen nachm im kreis spaziert

3.apr

beuron friedingen und zurück ein weißer reiher

4.apr

zurück

fazit

es fließt die donau
auf der stelle
von einer strom
zur andern schnelle

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1429

vierzehnter juni zweitausenddrei

baum
hermaphrodit
mit kreuz

gesehen
im garten
des nachbarn

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1430

achtzehnter juni zweitausenddrei

heldenwort

fluche dem leben
das nichts großes
von dir verlangt

und preise

den kleinsten rest
den der tod
dir erläßt

(geträumt)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1431

fünfundzwanzigster juni zweitausenddrei

wolkenskelette

röntgenaufnahmen
von wolken

wolkeninnereien

wolkengrab
mit wolkenleiche

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1432

erster juli zweitausenddrei

orgasmus

der dich
ansieht


orgasmus

dem du
ins auge siehst


orgasmus

den du nicht mehr
mit ansehen kannst

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1433

vierter juli zweitausenddrei

wolkenbild

sankt thomas
taucht die hand
ins wundenmal



Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1434

siebenter juli zweitausenddrei

ländliche redensart

man könnte
lumpen kotzen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1435

dreiundzwanzigster juli zweitausenddrei

emanzipation
des orgasmus

meiner

wird immer
weiblicher

sogar
hermaphroditischer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1436a

einunddreißigster juli bis fünfzehnter august zweitausenddrei

paris

31.jul

21 uhr 10 ab lauda üb stuttgart nachtzug paris

1.aug

vorm einkaufen dann geschlafen dann bis in die 'stadt' und zurück
abds gegessen und getrunken etc

2.aug

markteinkauf auf dem boulevard de la chapelle bei der u-bahn-station
barbés-rochechouart dann rund um das sacrécoeur-viertel
abds fisch

3.aug

montmartre unterer teil und friedhof dann gegessen und geschlafen
und im dunkeln sacré-coeur

4.aug

bis zum eiffelturm und zurück abds grande arche und zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1436b

5.aug

erst chateau de vincennes dann stadt und tuillerien

6.aug

marmottan und i.st.louis musée marmottan 2, rue louis boilly
(16e) metro: la muette hémérocalles die hemerocalle ist
die taglilie agapantheas der agapantheus ist die schmucklilie

7.aug

musée rodin parkseite links die 'karyatide mit dem stein' !!!
auch die zeichnungen ! danach pére lachaise a&h abds champs
elysees arc bis louvre

8.aug

am place des vosges einkaufen etc und 13. arr. 'wachtelberg' und
'chinatown'

9.aug

die großen boulevards von etoile wagran parc monceau malherbes
hausmann fayette abds concorde madelaine opéra vendôme
an der seine zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1436c

10.aug

abds bei 'paris plage' langsam wird es eine plage seit wir hier sind
täglich über vierzig grad

11.aug

durch ruen über avenuen über den mont und durch martre die 'mühle'
und die klinik wo nerval 'wohnte

12.aug

von der seine über av.emile zola rue de vaugirard zum jardin de luxembourg
pantheon musée de cluny und zu fuß die ganze rue st.denis bzw du fbg
st.denis zurück

13.aug

vermurkst und vertrödelt abds klauen sie aus kAs tasche die ausweise
und die letzten metrotickets

14.aug

rückreisevorbereitungen von wäsche waschen über bude säubern bis
schlüssel wegbringen etc.

15.aug

zurück

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1436d

fazit

deutschland das land von dem man
sodbrennen bekommt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1437

sechzehnter august zweitausenddrei

fälschlich
lebt ich

zu ideologischer
unzeit

historie
die
historische mission

versiegt
der so
zialismus

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1438

zweiter september zweitausenddrei

was ist eine flächendeckende bestreifung

die anfrage ist dahingehend zu beantworten
daß es sich bei der flächendeckenden bestreifung
um eine variante der streifendeckenden beflächung handelt
bei welcher die flachgestreifte bedeckung
der deckflächenstreifen aller flachdecken und deckflächen
streiflicherseits abgeflacht wird

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1439

vierter september bis siebenter september zweitausenddrei

cadenabbia

die lesung fällt aus

auf dem bahnhof in zürich
steht auf einem plakat


TGI
CHE
SA
RUMANTSCH
SA
DAPLI

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1440

dreizehnter september bis vierter oktober zweitausenddrei

spiekeroog


die sonne
ist weiß

schneegleich
leuchtet
der nebel

vom strand
steigt
der himmel auf

das meer
dahinter
rauscht
wie im rausch

flut
meer unter

ebbe
land über

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1441a

siebenter oktober zweitausenddrei

nachträge september


meiner blutgruppe nach
bin ich eine negative null

giersüchtig nach östrogenem
brunstharzigen brustwarzen
milchenen embryonallaktanzien


denn ich habe
was ich brauche
außer geld
was kein mangel ist
solange ich ihn mir leisten kann

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1441b

seit fünftausend jahren
werden bücher verbrannt

das nichtbrennbare buch
wurde nicht erfunden

das gleiche gilt
für den menschen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1442

neunzehnter oktober zweitausenddrei

orgasmus

gleich
einer geburt

'wie aus dem
mutterbauche'

(kA)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1443

dreißigster oktober zweitausenddrei

hinsinkt
 gestorben
  des todes
   sterblicher teil

und aufsteht
 und weggeht
  derselbe
   unsterbliche tod


(geträumt)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1444

einundzwanzigster november zweitausenddrei

'sterntalerchen'

märchenbild
der prostitution

fürs röckchenheben
unten

goldregen
von oben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1445

vierundzwanzigster november zweitausenddrei

einigkeit
publikum theater

über autor
und stück

wie nachbarn
am zaun

hinter
seinem rücken

erzeuger erzieher zögling

affirmativer skandal

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1446

fünfundzwanzigster november zweitausenddrei

bedingen industrie und massen einander

wenn ja und das etikett 'post-industriell' zutrifft

ist dann auch 'das ende der massen' gekommen

'frißt' die industrie ihre 'kinder'
(genetische nahrung massenmedialer konsum)

kommt die zeit wo 'der knecht' auf eigene rechnung wird leben müssen

entfällt ohne industrie und ohne massen die funktion des staates
(zb das 'soziale')

was bleibt von kirchen parteien industrie im nachchristlichen
entideologisierten postindustriellen zeitalter

noch gibt es weltkirchen volksparteien und 'global player'
(industrie ohne menschen)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1447

einundzwanzigster dezember zweitausenddrei

tote

feiern
sterbetag

gestorbene

gratulieren sich
zum todestag

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1448

fünfzehnter januar zweitausendvier

wer weiß
ob der urknall
nicht noch 'währt'

('noch ist der erste herzschlag gottes
  nicht vorbei...')

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1449

sechzehnter januar zweitausendvier

karlsruhe delacroix ausstellung

stärkster eindruck th

medea

das schwarze der umnachtung um ihr haupt

demosthenes

der mit den wellen spricht dem element (nicht zu den fischen)


stärkster eindruck kA

szene aus dem griechischen freiheitskampf

der blick des pferdes auf den gefallenen

der tote türkische soldat
der trinkende verletzte räuber

im vergleich zu den tiger-bildern

außerdem grünewald die kreuzigung (früher in tbb)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1450

zwanzigster januar zweitausendvier

orgasmus

der unter der haut
hinfährt

wie ein zucken
über pferdehälse

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1451

zweiundzwanzigster januar zweitausendvier

im wetterbericht

das
auf dem mars

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1452

fünfzehnter februar zweitausendvier

orgasmus
im urzustand

ein weißäugiges
fohlen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1453

achtzehnter februar zweitausendvier

'...die B.R.D. - ist die dümmere "DDR"
 von beiden...'

("kneipen-weisheit")

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1454

zweiter märz zweitausendvier

ödipus

wer ein schicksal hat hat schuld
kein schicksal zu haben ist auch eins
ödipus hat kein schicksal er ist es

schicksale sind schlechte stücke
sophokles erzählt ein theoretisches schicksal
ödipus leistet sich einen praktischen beitrag
zur theorie desselben

ödipus ist die geschichte eines mannes
der keine augen im kopf hat

jean paul wundert sich daß niemand fragt
wohin der blinde ödipus geht

wohin geht das schicksal
doch nicht ins theater

oh ja doch ins theater
sich zuzusehen

ödipus ist der ideale zuschauer

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1455

dritter märz zweitausendvier

es berichtet
die zeitung des tages

von einem jungen mann
der

ein in der ganzen welt
gefragter

'evangelist'
sei

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1456

siebenundzwanzigster juli zweitausendvier

idealisten
heißen leute
die ideale
haben

wie heißen
leute
die ideen
haben

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1457

erster september zweitausendvier

postmortale existenz
zweite frage

ist dem tod
zu trauen

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1458

achter september zweitausendvier

"ideen, die
 die welt verändern:
 Für 2,95"

(aus einem verlagskatalog)

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1459

neunundzwanzigster september zweitausendvier

postmortale existenz
dritte frage

was aber hatte
das alles
mit mir zu tun

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1460

sechsundzwanzigster oktober zweitausendvier

von meiner
geburt

habe ich mich
bis heute

nicht
erholt

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1461

sechsundzwanzigster november zweitausendvier

nicht alles
glänzt

was gold
ist

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1462

siebzehnter dezember zweitausendvier

"vergessen sie nicht
 bei verlassen der welt
 kräftig auszuspucken -
 sie kehren sonst wieder"

Thomas Körner: Fragment vom Buch  Fünfter Kasten    1463

zweiter januar zweitausendfünf

"please ring long
 and strong the bell
 we are sleeping
 deep and well"

("glockenspruch")