Siebentes Bild  ∙  Amnesie der Statistik

Alles sieht so aus, als sei das Spiel verloren. Die sechzehn Figuren liegen, über das Spielfeld verteilt, wie umgeworfen darnieder. Die meisten von ihnen sind nicht ohne Beschädigung geblieben. Aber allmählich tauchen sie aus der Benommenheit auf und gelangen zu sich.

Viele lachen über ihre possierlichen Fratzen. Einige lassen ihren Grimm aneinander aus. Manche räumen die Trümmer weg.

Freya ist umgesunken. Sie hat sich von der ungewohnten Anstrengung noch nicht erholt. Der Schreiber will sich erzürnt an ihr vergreifen. Arctur kommt ihr zu Hilfe. Er hat die Flammen gelöscht und ist noch versengt. Die Mutter ist des Todes gewesen und sammelt sorgfältig ihre auffliegende Asche in einer Urne.

Fabel pflückt mit viel Geschmack und Behendigkeit Blumen für ihre Manzi. Der alte Held scheint vom Schlag gelähmt. Er kann kein Glied rühren. Dem Vater, der in tiefem Schlummer liegt, zuckt der Blitz des Lebens in allen Muskeln. Er schlägt die Augen auf und hebt sich rüstig empor. Sophie, eine ernste und edle Ruine, spielt in völliger Umnachtung, laut mit bunten Steinen. Eros erwacht zu ihren Füßen und weint. Ginnistan schlingt um die blühende Anmut ihres Busens eine Kette aus geronnenem Metall. Die drei Schwestern entkleiden mit viel Geschicklichkeit ihre hageren Schönheiten. Man preist ihre Reize und ihren liebenswürdigen Charakter. Über diese Schmeicheleien ordentlich erfreut, fangen die drei Alten wie toll an zu tanzen. Auch die Tarantel springt wild umher. Die Sphinx verspricht jedem langes Leben und große Belohnung. Der Mondkönig und sein Gefolge legen der Sphinx Goldmünzen in den Mund.

Alle haben das Gedächtnis verloren. Anlaß, Verlauf und Ausgang des Spiels sind aus ihrer Erinnerung gewichen. Die Spielregeln haben sie vergessen. Der Name des Spiels ist ihnen unbekannt. Sie können nicht wissen, wann und ob sie je wieder spielen werden. Und doch beschleicht sie das Gefühl, daß sie ihr Spiel für alle Zeit fortsetzen müssen. Wie einem höheren Zwang folgend, schicken sie sich an, erneut Aufstellung zu nehmen. Zug um Zug begibt sich jeder auf seinen Platz. Sowie die Ordnung hergestellt ist, erstrahlt das Diadem auf Arcturs Brust. Er gibt das Zeichen und eröffnet die nächste Partie. Der alte Held ergreift sein Schwert. Fabel reicht Sophie die Lilienschale. Freya und Eros knien vor Sophie. Sophie gießt die Schale über sie aus...

Da kommt Sturm auf. Ein Brausen, wie Meer an hohlen Klippen. Die Tiefe erbebt. In einem Ausbruch entfliehender Lichtwellen verzehrt sich die Glorie. Alle Figuren sind zu Karyatiden aus Porphyr und Basalt erstarrt. Fortan ruht die ungeheuere Gruft der Ewigkeit auf ihren Schultern.

Dramaturgie  ∙  Zum siebenten Bild

Das Recht verkommt unter ideologisch-traumatischen Umständen zu einer Statistik, die sich im Zustand der Amnesie befindet. Geschehen kann das, wenn alle sechzehn, im Stück erscheinenden Figuren punktförmig aufeinander einwirken, und zwar unter der Bedingung eines offenen Ausgangs...

Der statistische Begriff aller sechzehn Größen soll der jeweilige bei Novalis sein. Die Punktförmigkeit der Anordnung soll durch eine Art Pathos der Zitate oder Pathos der Distanz erreicht werden...

Im Allgemeinen regelt und organisiert das Recht Beziehungen und Verhältnisse des Zusammenlebens der Menschen, hier also der personifizierten ICH-Bestandteile zueinander. Im ideologischen Trauma sind die Inhalte und Begriffe dessen, was Recht oder richtig ist, praktisch nicht mehr fassbar. Sie sind vergessen. Es ist unmöglich geworden, sich an sie zu erinnern. Das ist in einer Hinsicht Amnesie. Und gerade weil man die Schwierigkeit der Amnesie hat, sich also praktisch nicht erinnert, sind nur statistische Mutmaßungen über die richtigen Inhalte und Begriffe möglich. Aber auch diese Art der statistischen Mutmaßung bleibt bruchstückhaft. Es kommen nicht mehr als Zitate heraus. Wobei ein Zitat dazu herhalten muß, die Mangelhaftigkeit und Ungenauigkeit und Unzutreffendheit des vorhergehenden Zitates auszugleichen, diese tatsächlich aber nur verdeutlicht... Das letzte Bild des ideologischen Traumas beschreibt einen Zustand, der halb zum Trauma gehört und halb schon außerhalb von ihm liegt. Das halbe Außerhalbsein ist der eigentlich zu schildernde Zustand.

Die sechzehn personifizierten ICH-Bestandteile sind nicht mehr sie selbst, in dem Sinne, in dem sie während der sechs vorhergehenden Phasen des ideologischen Traumas sie selbst waren. Sie haben sozusagen ihre traumatische Identität verloren. Aber ihre einheitliche oder Zusammenbeziehung, die für ein enttraumatisiertes Ich repräsentativ ist, haben sie auch noch nicht gefunden. Auf diese verlorene Identität richtet sich die Amnesie ebenso aus, wie das Statistische auf die noch nicht erlangte Einheit des enttraumatisierten Ichs. Die wirklichen Inhalte und Begriffe, wie sie auch bei Novalis vorkommen, schwanken zwischen einer kalten, leeren, statistischen und einer warmen, erfüllten Betrachtungsweise durch die Figuren hin und her. Die Figuren im Trauma haben nicht gewußt, daß sie Begriffe wie Liebe, Weisheit, Glaube repräsentieren. Im Gegenteil, durch ihre Verbiegung gegenüber diesen Größen, ihrer Beziehungen zueinander, war das Trauma gekennzeichnet. Jetzt aber, nach dem Trauma, besinnen sie sich mühsam auf diese Begriffe. Sie ertasten sie statistisch, haben dabei aber die Mühe, die Amnesie, auch gegenüber dem Trauma, abzubauen. Gleichzeitig spüren sie, daß hinter dieser Statistik auch noch Blut und Lebendigkeit existieren. Sie spüren es an den spärlichen Zitaten, zu welchen sie fähig sind. Sie spüren es immer mehr, je mehr auch dieser Teil des Traumas abgebaut wird. Und die zitatweise, statistische Überwindung der Amnesie gleicht einem Entdeckungsvorgang. Wieder aufgedeckt wird das Gedächtnis.

Die Haltung eines jeden, der mit schüchternem Staunen sieht, daß es das doch gibt, was er immer ersehnt hat, wird von allen anderen bemerkt. Man beginnt zu spüren, daß man es fast hinter sich hat, aber auch, was einen noch vom Ende trennt. Man mißtraut sich sogar schon wieder untereinander, kennt die eigenen und fremden Schwächen, ist vorsichtig...

Die ICH-Bestandteile sollen sich, aus der nur statistischen Erfahrung, der dafür ursächlichen Amnesie, die letzte Spielart des Traumas überwindend, bis zu ihren wirklichen Inhalten und Begriffen, wesentlich denen bei Novalis, durchringen und diesen, und damit sich gegenüber die Haltung einnehmen, die man einnimmt, wenn man ein solches Trauma hinter sich gebracht hat.

Noch deformiert vom erst fast überstandenen Trauma, haben sie die Aufgabe, sich zu einer Einheit zu finden, dem ICH. Dies ist nur möglich über die Begriffe, die sie im Novalis'schen Sinne vorstellen. Von denen sie aber nichts wissen, bestenfalls eine statistische Vorstellung haben. Zitatweise wird die Amnesie, die vor den wahren Begriffen liegt, abgebaut.

Im Wesentlichen versucht jeder, die Amnesie sich selbst gegenüber abzubauen. Da aber jeder nur ein Teil des ICH ist, bleibt er innerhalb des Ganzen nur ein Zitat dieses ICH und muß, wenn dieses ICH wieder errichtet werden soll, durch die nächste Figur abgelöst werden. Deshalb punktförmige Folge von Zitaten des ICH in Gestalt der sechzehn Figuren...

Im Vergleich mit dem ersten Bild läuft das letzte Bild gewissermaßen rückwärts. Der Beginn des Traumas löst das System in seine Begriffe auf. Das Ende des Traumas versucht, sie wieder zu einem System zusammenzufassen. In Richtung auf das ICH wirkt die Amnesie scheinbar konstitutiv.

Der Ton aber, in dem sich alles dieses ereignet, ist am ehesten mit Pathos der Skepsis zu bezeichnen…

Aus den ersten Anzeichen der Ernüchterung, wie sie gegen Ende des Traumas wahrnehmbar werden, auch denen der Hilflosigkeit und Verunsicherung, aber auch der Gefährdung und Labilität, entsteht eine zaghaft erste Schüchternheit, den vor, während und nun auch nach dem Trauma existierenden Werten gegenüber, die jetzt, nach der Lösung aus der traumatischen Befangenheit, einen völlig anderen Bedeutungszusammenhang für die Organisation des ICH erhalten.

Dieses Pathos der Nüchternheit, mit allen Einschränkungen des noch Ungekannten und Ungelernten, spricht von einer Ethik der Zukunft, in der man tatsächlich eine Freya, ein Arctur sein kann, in sich, ohne den „romantischen“ Nachteil der Ideologie. Geistig ergeben die Sechzehn in ihrer Zuordnung eine Art geläutertes Figuren-Ensemble des „Ofterdingen“, aber weltlich... also nicht nur in erwachender, sondern auch erwachsener Nüchternheit. Betreten, benommen, beklommen, aber schuldlos, heiter, ironisch. Und des Wertes sich durchaus bewußt, den man im Sinne des Novalis verkörpert...

Und dann sieht man plötzlich seine Lage ein. Noch unbeholfen, tölpelhaft, ist man aus ihr herausgeschlüpft. Die Situation hat etwas Rührendes. Man bestreitet das Gewesene. Man ist nicht überlegen, den Dingen noch nicht wieder gewachsen. Aber eine Chance, die in dieser Unfähigkeit liegt, das Schöpferische daran, ahnt man bereits wieder. Noch hemmen einen die Möglichkeiten, schüchtern ein. Ironie und Kritik kommen eher zaghaft in Gang, weil man sich nun noch etwas mehr kennt als vorher. Man weiß ein wenig genauer, wie sehr gefährdet man ist. Wie schnell es geht, sich auch diese Chance zu vermasseln. Es ist ein Zwischenbereich, in welchem man sich da aufhält. Zitternd, doch schon ein wenig froh. Noch verwundet und vorsichtig, und immer wieder auf der Hut. Leise und langsam schält sich eine entideologisierte Hoffnung heraus. Ein entideologisierter Glaube. Eine entideologisierte Weisheit, Liebe... Etwas, wie ein tatsächlicher Mut, tatsächliche Zärtlichkeit. Aber da schon endet es, wenn es aus diesem Zwischenbereich heraus will. Wenn es mehr zu werden droht als ein befreiendes Aufatmen zwischen zwei Luftanhaltungen in einer fremden ungeatmeten Luft...

Vielleicht zerfallen in genau diesem Augenblick die nun zur Ofterdingen-Gruppe gewordenen Gestalten... oder sie bleiben, verstummt und erstarrt, wie die Trümmer stehen, die das Grab des Novalis bilden...